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NetzDG im Selbstversuch Wir haben uns bei Facebook und Twitter beschimpft: Was gesperrt wurde - und was nicht

Heiko Maas, Alice Weidel, Twitter- und Facebook-Screenshots zum NetDG
Aus dem Haus von Justizminister Heiko Mass (SPD) kommt das Netwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Beatrix von Storch (AfD) bekam es schon zu spüren. Wie ergeht es unseren Redakteuren bei Facebook und Twitter?
© Wolfgang Kumm/DPA, Christophe Gateau/DPA, Montage: stern.de
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sorgt seit Einführung am Jahresanfang für Aufregung. Es tritt Hass in sozialen Netzwerken entschieden entgegen, sagen die einen. Dadurch wird die Meinungsfreiheit ausgehöhlt, sagen die anderen. Der stern hat das umstrittene Gesetz auf die Probe gestellt.

Was ist Beleidigung oder Bedrohung, was Verleumdung oder Volksverhetzung? Darüber entscheiden in den sozialen Netzwerken seit dem 1. Januar 2018 Privatunternehmen: Mit Inkrafttreten des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) sind Plattformbetreiber wie Facebook, Twitter, Youtube und Instagram - soziale Netzwerke, die mehr als zwei Millionen Nutzer haben - in Deutschland dazu angehalten, entsprechend des NetzDG "offensichtlich rechtswidrigen Inhalt" binnen 24 Stunden zu löschen. Andernfalls drohen Strafen in Millionenhöhe. (Wie das Gesetz umgesetzt wird, lesen Sie hier.)

Die Unternehmen sollen dazu gedrängt werden, härter durchzugreifen. Mit bisher, gelinde formuliert, umstrittenem Erfolg: Die AfD-Politikerinnen Alice Weidel und Beatrix von Storch instrumentalisierten das Löschgesetz allem Anschein nach für eigene PR-Zwecke. Eine Satire des "Titanic"-Magazins führte ebenfalls zu einer umstrittenen Sperrung. Sogar ein Tweet von Justizminister Heiko Maas selbst, in dem er Thilo Sarrazin vor rund sechs Jahren auf Twitter einen "Idioten" genannt hatte, wurde womöglich durch das NetzDG entfernt. Mit anderen Worten: Es herrschte viel Chaos rund um das Gesetz.

Der stern wollte wissen, wie Twitter und Facebook das NetzDG genau umsetzen, wie die Unternehmen auf Hinweise reagieren, wie schnell sie löschen - und was sie als "offensichtlich rechtswidrigen Inhalt" auffassen und was nicht. Unsere Autoren haben daher demonstrativ und virtuos geschimpft. Der vulgäre Selbstversuch ist dabei exemplarisch zu bewerten.

Die Versuchsanordnung

Die fiktiven Social-Media-Identitäten "Fabian Schiller" (auf Twitter: @DgNetzwerker) und "Fabian Biller" (@DgHetzwerker) haben eine gemeinsame Mission: schimpfen, um des Schimpfens Willen. Vorher bekommen sie auf Twitter und auf Facebook Profilbilder aus einem lizenzfreien Stock-Archiv und eine fiktive Biographie verpasst, teilen willkürlich Beiträge und vergeben "Gefällt mir"-Angaben. Die Scheinidentitäten sollen nicht sofort als solche auffallen.  

Nach einem Tag werden sie sich grundlos und gegenseitig beleidigen, verleumden, angehen. Opfer der kalkulierten Verbalattacken werden lediglich "Fabian Schiller" und "Fabian Biller" sein. Von volksverhetzenden und rassistischen Kommentaren sieht der stern in dem Selbstversuch ab.

Die ersten Beleidigungen

Ist "Idiot" bereits eine Beleidigung, wie womöglich im Fall Maas/Sarrazin? Klar, Auslegungssache - aber das ist die Umsetzung des NetzDG durch Twitter und Facebook bisweilen scheinbar auch.

Also lässt "Fabian Schiller" auf beiden Plattformen wissen:

NetzDG im Selbstversuch: Wir haben uns bei Facebook und Twitter beschimpft: Was gesperrt wurde - und was nicht

Unser fiktives Opfer der Verbalattacke reagiert, allerdings mit einer harscheren Beleidigung.

"Schiller" und "Biller" melden die Beiträge des jeweils anderen, sowohl auf Facebook als auch auf Twitter, und erklären die Verbalattacken zum Fall für das NetzDG.

Das Melden von Beiträgen

Auf Twitter ist das Melden von unliebsamen Postings ein Leichtes: Der Beitrag wird ausgewählt, ein Menü bietet die Option "Melden" und später den Reiter "Fällt unter das Netzwerkdurchsetzungsgesetz" an. Anschließend erscheint eine Auswahl potenzieller Vergehen, die unter das NetzDG fallen.

NetzDG im Selbstversuch: Wir haben uns bei Facebook und Twitter beschimpft: Was gesperrt wurde - und was nicht

Eine digitale Unterschrift (Name des Nutzers) schließt die Meldung ab. Derjenige, der sich beschwert, erhält eine Bestätigungs-E-Mail. Und, später, eine Nachricht über den Ausgang seiner Beschwerde.

Auf Facebook gestaltet sich das Melden von Inhalten deutlich schwerer. Wer eine Beschwerde einreichen will, muss in der Regel - in unserem Versuch war auch das Melden über den Beitrag selbst möglich, aber nicht immer - "Impressum/AGB/NetzDG" auf der Facebook-Seite ansteuern. Über zwei weitere Klicks gelangt der Nutzer schließlich zum "NetzDG-Meldeformular", das Punkt für Punkt - ähnlich dem Twitter-Formular, aber ausführlicher - abgearbeitet werden muss. Die zu beanstandenden Beiträge müssen in dem Formular verlinkt werden.

NetzDG im Selbstversuch: Wir haben uns bei Facebook und Twitter beschimpft: Was gesperrt wurde - und was nicht

Auch hier wird das Melden eines Beitrags mit einer digitalen Unterschrift abgeschlossen, eine E-Mail bestätigt den Eingang der Beschwerde.

Die ersten Rückmeldungen

Es dauert nur wenige Stunden (in unseren Versuchen: zwei bis vier), bis Facebook und Twitter auf unsere Beschwerden reagieren. 

"Nur, damit es alle wissen: @DgHetzwerker ist ein Idiot!!!" hält Twitter für unproblematisch. 

NetzDG im Selbstversuch: Wir haben uns bei Facebook und Twitter beschimpft: Was gesperrt wurde - und was nicht

Ebenso die Reaktion vom "@DgHetzwerker", der einen schärferen Ton angeschlagen hat.

NetzDG im Selbstversuch: Wir haben uns bei Facebook und Twitter beschimpft: Was gesperrt wurde - und was nicht

In beiden Rückmeldungen fallen die Begründungen schlank aus.

Auch Facebook sieht von einer Löschung ab. Auffällig: Die Botschaft überbringt in einem Fall "Nikolaj". 

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Wofür Nikolaj bei Facebook zuständig ist, geht aus seinem Grußwort nicht hervor. Er gehört vermutlich zum sogenannten Community Operations Team von Facebook. Dort wird normalerweise die Einhaltung der Gemeinschaftsstandards der Plattform überwacht. (Lesen Sie hier mehr dazu.)

Die nächsten Beleidigungen ...

Zwar wurden unsere ersten Beleidigungen nicht geahndet, doch gehen wir nun virtuoser ans Werk - und versuchen mögliche Grauzonen auszuloten. 

Dieses Mal stellt "Fabian Schiller" sein Gegenüber wieder an den Pranger. Allerdings mit Beleidigungen, die man aus dem Rheinland kennt - immerhin lebt unser fiktiver Krawallmacher in Köln. 

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"Fabian Biller" beleidigt zurück, allerdings mit einer Anspielung, die das Schimpfwort nur erahnen lässt – es wird nicht explizit ausgesprochen. Wer das berühmte Zitat von Grünen-Politiker Joschka Fischer kennt (oder kurz nachschlägt) weiß allerdings, was gemeint ist.

Wieder melden wir die Beiträge gegenseitig. Das Ergebnis überrascht. 

... und die überraschenden Rückmeldungen

Erneut melden sich Facebook und Twitter nach kurzer Zeit zurück. Mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Facebook teilt "Fabian Biller" via E-Mail mit, dass der "von Ihnen gemeldet Inhalt" - die Beleidigung im Rheinland-Sprech - "in Deutschland nicht mehr zugänglich" ist. Man habe den Inhalt aus "folgendem Grund gesperrt: Beleidigung (§ 185 des deutschen Strafgesetzbuchs)."

Übeltäter "Fabian Schiller" muss sich erneut bei Facebook einloggen, um schließlich mit folgender Botschaft (neben einer E-Mail-Nachricht) begrüßt zu werden:

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Der Verbleib von "Fabian Billers" Reaktion darauf ist unklar - Facebook hat sich dazu nicht noch einmal via E-Mail geäußert. Der Kommentar wurde mit dem Ursprungsbeitrag mitgelöscht.

Twitter hingegen kann keine Rechtsverstöße bezüglich des NetzDG feststellen - weder durch die Beleidigung im Rheinland-Sprech ... 

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... noch die Anspielung auf "Arschloch" durch ein Zitat.

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Warum fallen die Reaktionen von Twitter und Facebook unterschiedlich aus - obwohl sich beide Meldungen auf ein und dasselbe NetzDG berufen?

Das sagen Facebook und Twitter

Der stern hat Facebook und Twitter mit dieser und weiteren Fragen sowie den Ergebnissen unseres Versuchs konfrontiert. 

Ein Pressesprecher von Twitter antwortet: "Wir kommentieren keine Einzelfälle, Hypothesen oder Konten aus Datenschutz- und Sicherheitsgründen."

Eine Pressesprecherin von Facebook schickt eine Passage aus dem Newsroom von Facebook, einem Blog mit aktuellen Mitteilungen des sozialen Netzwerks. Darin heißt es etwa: "Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ist eine grundsätzliche Neuerung, die weltweit einzigartig ist und für alle Beteiligten in seiner Komplexität eine Herausforderung darstellt" oder "Wir haben unsere Mitarbeiter in den für Deutschland zuständigen Teams geschult, um gemeldete Inhalte entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen bearbeiten zu können." Die Sprecherin selbst ergänzt: "Facebook prüft jede NetzDG-Meldung sehr sorgfältig, bei Bedarf auch mit juristischem Sachverstand." Eine Prüfung sei "selbst für Rechtsexperten mitunter schwierig."

Das Fazit

Trotz des mutmaßlichen Meldungsstroms, in dem sich Facebook und Twitter nun befinden dürften, reagieren die sozialen Netzwerke schnell. Das könnte auch eine ihrer Schwachstellen sein, wie unser Versuch vermuten lässt. Womöglich werden Beiträge im vorauseilenden Gehorsam gelöscht oder schnell als unproblematisch abgearbeitet, sodass keine Strafzahlungen zu befürchten sind. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass in der Regel keine juristischen Fachkräfte im Löscheinsatz sind. 

So ist es auch kaum ein Wunder, dass in jedem Fall eine nähere Erläuterung der Entscheidung - ob Löschung oder nicht - ausbleibt. Juristen werden vermutlich verstehen, wann und warum eine Äußerung unter das Strafgesetzbuch fällt. Der normale Nutzer vermutlich nicht. Ein Umstand, der sich aber  durch einen automatisch angehängten Erklärtext womöglich lösen lassen könnte.

Die fiktiven Social-Media-Identitäten "Fabian Schiller" (auf Twitter: @DgNetzwerker) und "Fabian Biller" (@DgHetzwerker) wurden trotz der geahndeten Verstöße bisher nicht gesperrt.

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