Liebe Frau Peirano,
ich (34) habe vor drei Monaten einen Mann (Andreas, 38) kennen gelernt, mit dem es etwas merkwürdig ist. Wir fielen uns gegenseitig auf einer Fortbildung auf. Er ist extrem sympathisch und attraktiv. Wir hatten dauernd Blickkontakt und suchten uns in der Pause. Wir haben uns über Privates unterhalten, er hat erzählt, dass er schon länger Single ist. Er wandert in den Bergen, fährt leidenschaftlich Tourenski (ich auch) und mag die gleiche Musik. Am Abend waren wir dann noch zusammen aus und er hat mich geküsst.
Danach haben wir uns täglich geschrieben, er war immer sofort erreichbar, aber hat meistens etwas knapp geschrieben und Fotos von seinem Tag geschickt. Ich konnte nicht immer etwas damit anfangen, weil ich manchmal nicht wusste, wer da drauf ist, aber es war ok. Wir haben dann abgemacht, dass ich ihn besuche – er wohnt zwei Stunden von mir entfernt. Dabei sind so einige Dinge passiert, die mich gestört haben.
Ich habe extra alles geplant, um pünktlich bei ihm zu sein. Er schrieb mir dann, als ich schon in seiner Stadt war: „Lass dir ruhig Zeit, ich bin gerade erst von der Arbeit gekommen“ und verschob unser Treffen um eine Stunde nach hinten. Ich saß wie bestellt und nicht abgeholt im Café und schlug die Zeit tot.
Um ehrlich zu sein, hätte ich auch gerne etwas von seiner Stadt (die eine sehr schöne Altstadt haben soll) gesehen und nicht nur seine Wohnung. Aber er hat mich gar nicht gefragt, was ich will. Ich wollte ihn nicht nerven.
Als ich dann in seinem Haus war, nannte er mir nur sein Stockwerk. Auf dem langen Flur, der nach rechts und links ging, irrte ich dann umher, bis er einige Minuten später auf dem Flur erschien und ich wusste, wo er wohnt. Dann lief der Fernseher, mit Ton. Er schaltete nur den Ton etwas leiser. Wir begrüßten uns sehr nett und hatten auch ein gutes Gespräch, und er war auch herzlich. Aber er war in kleinen Dingen so unaufmerksam. Er hatte nur ein Getränk da (eine bereits halb getrunkene Flasche Apfelsaft) und bot mir auch nichts anderes an. Am nächsten Tag ging es dann so weiter: Er hatte kaum was zum Frühstücken da und ich ging Brötchen holen. Er wählte ein Restaurant, das für seine Steaks bekannt ist, ich bin Vegetarierin. Dann musste er auch noch einige Dinge erledigen und telefonierte länger. Seine schöne Stadt habe ich nicht gesehen. Nachmittags bin ich dann wieder nach Hause gefahren.
Ich muss dazu sagen, dass unsere Gespräche sehr schön waren. Er war sehr interessiert an mir, wir haben viel gelacht. Er küsst wirklich super, und ich würde ihn schon gerne wiedersehen. Aber es gibt da eine Stimme in mir, die sagt, dass einiges eben auch nicht stimmt. Und ich habe keine Lust, ihn zu erziehen. Das habe ich schon mal bei einem früheren Freund versucht, und es ist gründlich schiefgegangen.
Was raten Sie mir?
Viele Grüße, Sintje B.
Liebe Sintje,
ich kann gut verstehen, dass Sie sich hin- und hergerissen fühlen. Auf der einen Seite gefällt Ihnen Andreas sehr gut: Sein Aussehen, sein Charme und Witz sind sehr gewinnend, und zwischen Ihnen gibt es eine große erotische Anziehungskraft. Anscheinend gibt es bei Ihnen beide berufliche Überschneidungen, wenn Sie auf der gleichen Fortbildung waren, und nebenbei noch viele gemeinsame Interessen. Das klingt so, als wenn Sie eigentlich eine gute Basis für eine Beziehung haben.
Ich sage "eigentlich". Denn auf der anderen Seite gibt es eben auch viele Dinge, die Sie jetzt schon – nach dem ersten Treffen- gestört haben. Der gemeinsame Nenner dieser Störfaktoren ist so etwas wie Unachtsamkeit, eine starke Ich-Bezogenheit zusammen mit einem Schuss Unhöflichkeit. Das ist sicher nicht böse gemeint und hat auch nichts damit zu tun, dass Sie ihm nicht wichtig sind. Aber Andreas scheint sehr lockere Umgangsformen zu haben und sehr spontan zu sein. Das kann sehr positiv sein, da er anscheinend gut im Moment leben kann. Sie haben beide zusammen Spaß gehabt und viel gelacht. Und auch das Küssen macht bestimmt mehr Spaß, wenn man sich locker dem Augenblick hingeben kann. Im Umkehrschluss zeigt Andreas‘ Verhaltensmuster aber auch, dass er wenig plant. Er wurde zum Beispiel nicht rechtzeitig fertig, als Sie (verabredet) zu Besuch kamen. Er hat auch für Ihre Versorgung wenig „gezaubert“: Er hat nicht extra Getränke oder etwas zum Essen eingekauft, sondern nur etwas aus dem Kühlschrank geholt, was eh da war. Und er kommt nicht auf die Idee, dass Sie andere Bedürfnisse haben könnten als er. Dass Sie zum Beispiel etwas von der Stadt sehen möchten, oder ein anderes Restaurant gewählt hätten. Das Beispiel mit seinem Flur, auf dem Sie herumirrten, zeigt vielleicht symbolisch, dass Andreas – im wahrsten Sinne des Wortes- wenig entgegen kommend ist. Er kann sich schlecht in Ihre Lage hinein versetzen und fragen, was Sie gerne möchten. Sondern er macht die Dinge so, wie er es gewohnt ist.
Es gibt bestimmt viele Frauen, für die dieses Benehmen vollkommen in Ordnung wäre- weil sie selbst eher informell und spontan sind. Ich höre bei Ihnen, dass Sie irritiert sind und eigentlich ein klassischeres Benehmen erwarten würden: Man hält sich an Verabredungen, umsorgt den anderen, hat sich auf Besuch vorbereitet (Fernseher aus, Getränke und Essen vorbereitet, mehrere Restaurants zur Auswahl) und kann sich in die Bedürfnisse des anderen hineinversetzen – oder bemüht sich, diese zu erfragen.
Ich kann mir vorstellen, dass diese unterschiedlichen Vorstellungen immer wieder zu Konflikten oder Enttäuschungen zwischen Ihnen beiden führen würden. Gut wäre es auf jeden Fall, dass Sie möglichst bald beim nächsten persönlichen Treffen das offene Gespräch suchen. Sie beide können ja gut miteinander reden, und es wäre einen Versuch wert, Andreas freundlich zu sagen, was Sie für Bedürfnisse haben. Wenn Sie die Frage als Wunsch äußern und nicht als Vorwurf, können Sie bestimmt nach einer Lösung suchen. Wie gesagt, einen Versuch ist es wert, diese Dinge anzusprechen und nach Kompromissen zu suchen. Oder Sie laden ihn vielleicht das nächste Mal zu sich ein und kümmern sich um ihn, wie Sie es gerne selbst hätten. Dann wird ihm das vielleicht auch deutlich.
Es ist gut, dass Sie schon einen Finger auf diesen Unterschied zwischen Ihnen beiden gelegt haben. Geben Sie sich beiden doch noch die Chance, sich näher kennen zu lernen und zu versuchen, einen Weg zu finden, der für beide gut ist. Das hieße auch, dass Sie sich trauen, ihn z.B. zu fragen, ob er den Fernseher ausstellt. Beobachten Sie, wie er mit Ihrer Bitte umgeht. Wenn die „Probleme“ allerdings immer wieder auftreten oder zu Konflikten führen, dann bestätigt das Ihre Meinung, dass man andere nicht ändern kann. Dann haben Sie beide vielleicht die Basis für eine gute Freundschaft, aber eben nicht für eine tragfähige Beziehung.
Herzliche Grüße, Julia Peirano