Von seinen verführerischen blonden Locken, die Freunde und Liebhaber ins Schwärmen gebracht hatten, war nichts geblieben. Kurz geschnitten und dunkel waren Haare und Schnurrbart, als Gaétan Dugas am 12. März 1983 im West End Community Centre von Vancouver ans Mikrofon trat. Auf einem Film ist die damalige Situation festgehalten. Im Saal drängt sich "ein Haufen besorgter Kerle", wie ein Teilnehmer sagt. Das erste "Aidsforum" an der kanadischen Westküste soll über eine Reihe von schweren Erkrankungen Klarheit schaffen, die so gar nicht zu den Menschen passen, die es trifft: oft noch junge, auf den ersten Blick gesunde, schwule Männer. Wieso sollten die im Dutzend einen seltenen Hautkrebs bekommen, der große dunkle Flecken verursacht? Doch auch Gaétan Dugas hat an diesem Tag sein Kaposi-Sarkom überschminkt. Die Angst geht um. Auch in Vancouver.
"Ich habe den Eindruck, als gäbe es hier die Haltung, man müsse Menschen mit Aids fürchten", sagt er in provokantem Ton. Es wisse doch niemand, ob der "schwule Krebs" ansteckend sei. Nein, dafür gebe es tatsächlich keinen Beweis, bestätigt ein Arzt. Er selbst glaube aber, dass ein Erreger im Spiel sei, fügt der Mediziner an. Zu dieser Zeit sind in ganz Nordamerika nicht einmal 300 Fälle von Aids bekannt. Und erst zwei Monate nach dem Forum in Vancouver erscheint jene wissenschaftliche Publikation, die von der Entdeckung des "Human Immunodeficiency Virus" (HIV) berichtet. Ob es denn irgendeinen Test gebe, falls einer bei sich Symptome feststelle, fragt Gaétan Dugas. Nein, antwortet der Arzt. Zwei Jahre wird es da noch dauern, bis ein erster Test auf das HI-Virus verfügbar ist. Stumm bleibt Dugas am Mikrofon stehen, schaut zum Podium, als müsste von dort noch etwas kommen. Aber es kommt nichts.
Es fällt heute schwer, sich die frühen Jahre von Aids vorzustellen. Die fast völlige Unwissenheit über die Krankheit, bei den Infizierten wie ihren Ärzten. Die Angst vor einem qualvollen Tod und dem Verlust enger Freunde. Die Wut über Vertuschung, Stigmatisierung und die eigene Hilflosigkeit. Mit dem amtlichen Bericht über fünf junge Patienten in Los Angeles fing es im Juni 1981 an. Sie alle waren an einer ungewöhnlichen Lungenentzündung erkrankt. Mit ganzer Wucht hatte es da schon New York getroffen, dann war die urbane Westküste gefolgt – Los Angeles, San Francisco, Vancouver. Doch was war die Ursache dieses mysteriösen Sterbens?
Zumindest ein Schuldiger schien bald gefunden: Gaétan Dugas, der energische junge Mann beim Aidsforum in Vancouver. Nach seiner Diagnose hatte der homosexuelle kanadische Flugbegleiter den Ärzten der US-amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC ("Centers for Disease Control and Prevention") bereitwillig Auskunft über seinen Lebenswandel gegeben und auch Namen genannt. So rückte er ins Zentrum eines Diagramms, das die Fälle von 40 Patienten wie ein Spinnennetz verband. Sie alle hatten Sex mit dem Kanadier oder einem seiner früheren Partner gehabt. Dugas wurde bald "Patient O", der "Index-Patient". In seinem Blut sollte das HI-Virus erstmals Nordamerika erreicht haben. Allein dort starben seither etwa 700.000 Menschen im symptomatischen Vollbild von Aids. Beginnend mit einer einzigen Infektion, so schien es also, hatte eine furchtbare Epidemie den halben Kontinent überzogen. Gaétan Dugas selbst schätzte, er habe es in zehn Jahren auf etwa 2500 Sexualpartner gebracht. Konnte da noch ein Zweifel bestehen, dass der so mobile wie begehrte Steward die Seuche von Sauna zu Sauna und von Stadt zu Stadt getragen hatte?

Genanalysen zeigen heute, welchen Weg HIV vor Jahrzehnten genommen hat
Erst heute, 35 Jahre nach den ersten diagnostizierten Aidsfällen in Amerika, besteht die Möglichkeit, die Spur des Virus im Detail zu verfolgen. Tiefgekühlt lagern in den Labors noch Tausende Blutproben aus jener Zeit. Die waren nur zum geringen Teil wegen der aufflackernden Aidsepidemie genommen worden, sondern vor allem wegen einer anderen Krankheit, die sich damals unter Schwulen verbreitete: Hepatitis B. Auch dieses Leberleiden geht auf ein Virus zurück und wird sexuell übertragen. Um zu einem Impfstoff zu gelangen, waren in den USA viele Freiwillige untersucht worden. Ihr konserviertes Blut enthält prinzipiell noch jedes Virus von damals, womöglich also auch HIV.
Der Evolutionsbiologe Michael Worobey von der University of Arizona in Tucson hat sich darauf spezialisiert, wie ein Genkriminologe die Entwicklung von Viren zu analysieren und daraus abzuleiten, wo und wann welche Variante eines Erregers aufgetreten ist. Denn bei der Vermehrung eines Virus weicht jede Kopie – je nach Typ – ein bisschen und zufällig vom Original ab. Nur so kann sich ein Virus überhaupt an neue Gegebenheiten anpassen. Von den Kopien setzen sich dann jeweils diejenigen durch, die mit der veränderten Umwelt am besten klarkommen. Dabei hat das HI-Virus eine besonders hohe Mutationsrate. Es braucht nur wenige tausend Kopien, bis ein bestimmter Buchstabe des HIV-Erbguts falsch "abgeschrieben" wurde. Dieses Erbgut besteht überhaupt nur aus knapp 10.000 Buchstaben. In unbehandelten Patienten aber werden die HI-Viren an einem einzigen Tag zu Milliarden kopiert – und schaffen so ein beinahe unerschöpfliches Reservoir neuer Varianten. Die allermeisten – 80 bis 90 Prozent nach jüngeren Untersuchungen – sind nicht lebensfähig. Doch bleiben genug angepasste Viren, damit HIV in fast jeder neuen Lage bestehen kann. Die Geschwindigkeit, mit der es sich verändert, ist der Grund dafür, dass Aids bis heute nicht heilbar ist und das Virus im Körper der Infizierten medikamentös allenfalls auf einem sehr niedrigen Niveau gehalten werden kann. Einen Vorteil immerhin bringt die Wandlungsfähigkeit: Weil die Mutationsrate etwa konstant ist, können Forscher durch Genanalysen gut verfolgen, welchen Weg der Erreger genommen hat.
Dugas bekam als einer der ersten das Stigma eines Aidspatienten zu spüren
Über 2000 Blutproben aus den 1970er Jahren konnte das Team von Michael Worobey untersuchen. Ziel war es, möglichst das komplette Erbgut der damals umgehenden Viren zu bestimmen. Keine einfache Aufgabe, denn die lange Lagerzeit hatte die Molekülketten in viele kurze Fragmente zerbrechen lassen. Doch acht vollständige Virusgenome aus der biologisch bislang weitgehend verborgenen Anfangszeit von Aids konnten schließlich rekonstruiert werden. Erste Ergebnisse der Spurensuche im Erbgut des Erregers hatte Worobey im Februar auf einer Fachkonferenz vorgetragen. Die komplette Arbeit erscheint jetzt in der jüngsten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Nature".
Der Vergleich der Gencodes aus den Jahren 1978 und 1979 zeigt, dass HIV in Nordamerika schon damals recht weitgefächert zugegen war. Der Erreger musste also schon vor den ersten entdeckten Fällen 1981 Zeit gehabt haben, sich auszubreiten und zu verändern. Irgendwann zwischen 1969 und 1973, so belegen Worobeys Untersuchungen der historischen Proben, muss HIV aus der Karibik in die USA gelangt sein. Der Ursprung des Virus liegt zweifelsfrei in Afrika, wo aus verschiedenen Typen des Affenvirus SIV ("Simian Immunodeficiency Virus") die beiden bislang bekannten, für den Menschen gefährlichen Virentypen HIV-1 und HIV-2 entstanden. HIV2-Infektionen sind bislang weitgehend auf Westafrika beschränkt. So war es HIV-1, das den Sprung über den Atlantik machte. Zunächst in die Karibik, auf dem nordamerikanischen Festland traf es um 1972 zuerst New York. Etwa 1976 zog die Epidemie weiter nach San Francisco. Tatsächlich, so die neuen Analysen, scheinen die Infektionen dort von einer einzigen Ansteckung auszugehen. Doch die hatte nichts mit Gaétan Dugas zu tun.
Weil auch von ihm Blutproben konserviert worden waren, konnte sein Fall neu aufgerollt werden. Das Ergebnis wandelt die lange verbreitete Geschichte zur Mär. Denn eine Sonderrolle dieses Patienten lässt sich nicht länger rechtfertigen. Die Genomanalyse zeigt vielmehr, dass die bei ihm gefundenen Viren "typisch für die US-Stämme jener Zeit" waren. Weder könnte Dugas das Virus in die Karibik gebracht haben, noch steht er am Anfang der nordamerikanischen Epidemie. Und auch das bringt der Vergleich des Viruserbguts über Dugas hervor: "Obwohl er Aids-Fälle in Los Angeles und San Francisco durch sexuellen Kontakt miteinander verband", so die Autoren, "widersprechen unsere Ergebnisse der verbreiteten Fehlinterpretation, dass er seine Partner dabei auch mit HIV-1 infiziert hätte."
Gaétan Dugas, das "Monster, das uns Aids brachte"?
War er also der skrupellose Hasardeur, als der er vom preisgekrönten US-amerikanischen Autor Randy Shilts in "... und das Leben geht weiter" porträtiert worden war? "Ich konnte das Buch nicht zu Ende lesen", sagt Noah Stewart, der die Selbsthilfegruppe "Aids Vancouver" mitgegründet und Dugas gekannt hatte. "Ich war zu wütend über das, was Shilts über Gaétan geschrieben hatte. Das war einfach falsch." Der Verleger des Buchs räumte später ein, er habe seinen Autor dazu gedrängt, Dugas übertrieben darzustellen und ins Zentrum zu rücken, weil sich eine solche Geschichte besser verkaufen lasse. "Ich gebe zu, mir die Hände schmutzig gemacht zu haben." Tatsächlich wurde das Buch ein Welterfolg und Gaétan Dugas nicht nur "Patient Zero", sondern in der Yellow Press auch zum "Monster, das uns Aids brachte". William Darrow aber, ein Arzt aus dem Team, das die ersten 40 Fälle in einem Diagramm verbunden hatte, betont, dass es nie seine Absicht gewesen sei, Dugas als Quelle der Epidemie in Nordamerika zu präsentieren. Doch das Missverständnis war wohl schon in der Bezeichnung angelegt: "Patient O" stand ursprünglich für einen Fall "Outside of California", also für einen Infizierten, der nicht aus Kalifornien stammte. Doch aus dem Buchstaben "O" wurde bald die Ziffer "0", "Zero".
1981 hatte sich Gaétan Dugas wegen seines Hautkrebses einer Chemotherapie unterziehen müssen, die ihn seine Locken gekostet hatte. Er bekam als einer der ersten Aidskranken zu spüren, was es heißt, stigmatisiert zu werden. "Ich fühle mich nackt", schrieb er einem Freund, "und zu viele Menschen drehen sich um, wenn ich durch die Stadt laufe." Und dann die Krankheit selbst. Es sei sicher richtig, sich guten Mutes auf die völlige Genesung zu konzentrieren, dankte er für den Zuspruch des Freundes. "Aber da ist immer der Sturm, der dich trifft, wenn du ihn am wenigsten erwartest."
Nur ein Jahr nach seinem Auftritt beim Aidsforum in Vancouver starb Gaétan Dugas in seiner Heimatstadt Québec. Sicher war er alles andere als ein keuscher Heiliger. Doch nichts rechtfertigt, ihn zum Sündenbock für eine ganze Epidemie zu machen. Gaétan Dugas, so ist nun auch wissenschaftlich belegt, war nicht weniger ein Opfer des Virus als jener Autor, der ihn für die eigene Publicity missbraucht hatte. Fast genau zehn Jahre nach Dugas starb auch Randy Shilts an Aids.