Am ersten Schultag nach den Ferien wird sie endlich das Tanktop tragen. Seit Monaten hängt das himmelblaue Oberteil im Schrank. Keine weiten Schlabber-T-Shirts mehr, wahrscheinlich wird sie sich auch die langen Haare hochstecken, die sonst immer herabflossen und alles gnädig verhüllten: die hochgezogene Schulter, den Rippenbuckel, den schiefen Brustkorb.
Als Maylin Koch zwölf Jahre alt war, begann ihre Brustwirbelsäule aus der Senkrechten zu fliehen, sich nach rechts zu krümmen und zu verdrehen. Ab einer Biegung von zehn Grad seitwärts sprechen Ärzte von einer Skoliose. Manchmal werden schon Babys krumm geboren, doch meist bildet sich der Bogen erst bei Teenagern, typischer Weise im Wachstumsschub zu Beginn der Pubertät. Ein bis zwei Prozent der Jugendlichen sind betroffen, die meisten davon Mädchen.
Korrektur der Wirbelsäulenverkrümmung mit flexiblem Kunststoffseil
Irgendwann merkte Maylin, dass etwas nicht stimmte: "Bei jeder Bewegung knackte und knirschte es im Kopf und im Nacken", erzählt die heute 14-Jährige. "Ich hatte plötzlich Rückenschmerzen, wenn ich länger mit dem Schulranzen unterwegs war." Eine Heilpraktikerin sprach die Mutter an. Beim Vor beugen war es deutlich zu sehen: Maylins obere Wirbelsäule mäanderte in einem großen Bogen nach rechts.
Warum manche Kinder eine Skoliose bekommen und andere nicht, ist unklar. Die Gene spielen sicher eine Rolle. Klar ist aber: Ein verschobener Rücken muss früh behandelt werden, weil die Krümmung sonst im Erwachsenenalter weiter zunimmt. Ohne Therapie drohen dann Wirbelverschleiß sowie Kreislaufprobleme und Luftnot, wenn Herz und Lunge schleichend eingedrückt werden. Schon im Wachstum befeuert sich die Skoliose selbst: Gerät der Rücken aus der Balance, legen die einzelnen Wirbelknochen auf der zusammengepressten Seite kaum noch zu, auf der überstreckten aber umso mehr.
Leichte Skoliosen werden mit Physiotherapie behandelt, ab einer Krümmung von etwa 20 Grad verordnen Ärzte ein Korsett, das die Kinder fast rund um die Uhr unter der Kleidung tragen müssen. Nicht alle halten das durch. Starke Skoliosen ab 45 Grad werden meist operativ begradigt – vor allem, um sie zum Stillstand zu bringen. Als Maylin 14 wird, formt ihre Brustwirbelsäule bereits einen Bogen von 64 Grad nach rechts – trotz Physio- und Korsett-Therapie.

Wenige Wochen nach ihrem Geburtstag wird sie in Vollnarkose in einen OP-Raum der Eifelklinik St. Brigida in Simmerath gerollt. Das Krankenhaus ist eins von vier in Deutschland, an denen Skoliosen mit einer neuen Technik besonders schonend korrigiert werden. Per Trobisch, Chefarzt der Wirbelsäulenchirurgie, steht am Tisch, um den Eingriff vorzunehmen. Er gilt als Pionier des "Vertebral Body Tetherings", zu Deutsch: des "Anbindens der Wirbelkörper". Die noch junge Technik wurde vor ein paar Jahren am Shriners Kinderhospital in Philadelphia entwickelt. Ihr Erfinder ist der erfahrene Kinder-Wirbelsäulenchirurg Randal Betz.
"Das Neue an dieser Skoliosekorrektur ist ein flexibles Kunststoffseil. Dieses Implantat befestigen wir mit Schrauben seitlich an der Wirbelsäule, und zwar auf der Außenseite der Krümmung", erklärt Trobisch. "Dann setzen wir das Band unter starken Zug, damit es die Wirbelsäule aufrichtet wie ein inneres Korsett."
Acht Metallstifte
Bis es bei Maylin so weit ist, sind allerdings drei Stunden robuste Vorarbeit nötig: Während die Patientin auf der Seite liegt, setzen Trobisch und sein Assistenzarzt Mohamed Abdelaal drei kleine Schnitte auf der rechten Seite des Brustkorbs, unter dem Arm. Zwischen den Rippen hindurch arbeiten sie sich zu den Brustwirbeln vor. Der rechte Lungenflügel muss dafür leer gepumpt und während der OP zusammengefaltet werden. Durch einen weiteren kleinen Schnitt wird das Thorakoskop eingeführt. Die winzige Kamera mit Lichtquelle vergrößert das Bild aus dem Brustkorb auf einen Monitor.
Einen Lenden- und sieben Brustwirbel legt Trobisch frei und hämmert in jeden ein kleines Loch mithilfe einer Ahle. Der Chirurg bohrt die Öffnungen weiter auf und versenkt dann darin die Schrauben. Nun kann er in die Schraubenköpfe ein weißes Seil einlegen, etwa 35 Zentimeter ist es lang, das sogenannte Tether. Es besteht aus Polyethylenterephthalat, dem Kunststoff, aus dem auch Getränkeflaschen gefertigt werden. Das schnürsenkelartige Band wird mit viel Kraft und einer großen Zange auf Spannung gezogen und dann an der nächsten Schraube fixiert. Nach rund drei Stunden zeigt Maylins Röntgenbild einen beinahe geraden Rücken, in dem acht Metallstifte sitzen.

"Wenn Maylin jetzt wächst, gibt das gespannte Seil nicht nach und zieht so ihre Wirbelsäule immer weiter in die Senkrechte", sagt Trobisch. "Der Vorteil der Band-Methode ist, dass wir die Krümmung korrigieren können, der Rücken aber beweglich bleibt."
Beides zusammen ist ein Novum. Als Methode der Wahl für starke Skoliosen gilt bisher die Versteifung der Wirbelsäule mit Schrauben und starren Metallstäben im Rücken. Schätzungsweise 1000 Jugendliche erhalten jedes Jahr solch eine Spondylodese. Dabei wird der verkrümmte Rückenabschnitt zwar erfolgreich aufgerichtet, aber für den Rest des Lebens stillgelegt. Die elastischen Bandscheiben verknöchern, die einzelnen Wirbel wachsen zu einem Block zusammen.
Die neue Seil-und-Schrauben-Methode ist ein minimal-invasiver Eingriff, das Einsetzen der Stäbe erfolgt deutlich brachialer. Bis die Kinder wieder Sport treiben können, vergeht oft ein ganzes Jahr inklusive Reha. An den Enden des starren Blocks wirken Hebelkräfte, die Bandscheiben und Wirbel vorzeitig verschleißen lassen. Und zumindest ein Teil des Rückens bleibt für immer unbeweglich. Sportarten wie Gymnastik, Turnen oder Tanzen sind danach meist nicht mehr möglich. Oder eine Rollwende beim Schwimmen.
Erster Wettkampf nach der OP
Bei ihrer ersten Wende nach der OP sitzt Caroline Herzberg buchstäblich die Angst im Rücken. Spüren kann sie das dünne Band an ihrem Rückgrat nicht. Wird es reißen, wenn sie sich im Wasser zusammenrollt und mit Kraft vom Beckenrand abstößt? Im Januar hat auch sie ein Tether erhalten, implantiert am Krankenhaus Tabea in Hamburg. Die 13-Jährige ist die neunte Patientin, die Rolf Christophers mit der neuen Methode behandelt. Einige der Operationen hat der Wirbelsäulenchirurg gemeinsam mit seinem Kollegen Trobisch durchgeführt.
Anfang April springt die Leistungssportlerin wieder ins Wasser. Beim Nord Test, einem norddeutschen Regionalwettkampf, startet sie in ihrer Paradedisziplin: 100 Meter Schmetterling. "Es war mein erster Wettkampf nach der OP", erinnert sich Caroline. "Ich fühlte mich schwer und langsam und hatte überhaupt kein Gefühl fürs Wasser." Sie bekommt eine Außenbahn. Direkt über ihr stehen die Mädchen aus dem Verein und brüllen sie vorwärts. Als sie anschlägt, zeigt die Uhr eine Minute und 36 Sekunden. Ihre alte Bestzeit. Silbermedaille. Ihr Vater geht kurz aus der Schwimmhalle. Er weint still vor Glück. Die Operation ist da gerade acht Wochen her.
"Wir können mit der neuen Methode die Beweglichkeit erhalten, was bei einer Versteifung so nicht möglich wäre", sagt Wirbelsäulenchirurg Rolf Christophers. "Allerdings fehlen uns bisher Langzeitdaten zu dem Eingriff. Aus den USA wissen wir, dass in den zwei Jahren nach dem Eingriff wenige Prozent der Seile reißen oder sich lockern. Ein weiteres Problem ist eine gelegentliche Überkorrektur in die andere Richtung, wenn das Seil während des Eingriffs zu straff gespannt wird. Dann muss nachoperiert werden."
Inzwischen sind weltweit etwa 1000 Jugendliche mit der neuen Methode operiert worden, die meisten davon in den USA, etwa 50 in Deutschland. Eine eigene Abrechnungsziffer als Kassenleistung hat das Seil-Verfahren noch nicht. Der Eingriff soll aber demnächst als "Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode" (NUB) eingestuft werden. Dafür verhandeln die Kliniken zurzeit mit den Kassen und dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, wie viel dafür künftig erstattet wird.
Auf Einzelantrag der Patienten übernehmen schon jetzt manche Kassen im Nachhinein die Kosten für die neue OP von 35.000 Euro und mehr. Andere zahlen wenigstens den Anteil, den eine Standard-Versteifung gekostet hätte – mindestens 18.000 Euro. Die Eltern von Maylin zum Beispiel haben für den Eingriff zunächst einmal tief in die eigene Tasche gegriffen. Erst nachträglich kam von ihrer Versicherung zunächst eine mündliche Zusage, dass die Kosten erstattet werden. In einigen Jahren könnte das neue Tethering aber in den regulären Leistungskatalog der Kassen aufgenommen werden – sofern die Ergebnisse in Deutschland weiterhin positiv sind und bei den betroffenen Patienten wenig Komplikationen auftreten.
Erstmals ohne Schmerzen
Maylin geht zwei Wochen nach dem Eingriff in Simmerath bereits wieder mit ihrem Pflegehund Stella aus dem Haus – nur einmal kurz die Straße rauf und runter, aber immerhin. Bis ihr größerer Traum in Erfüllung geht, wird es noch ein wenig dauern.
Irgendwann nach den Sommerferien wird sie wieder auf ihr Pony steigen, eine temperamentvolle braune Stute. Auf dem Reitplatz will sie üben, endlich gerade auf dem Pferd zu sitzen, um dann gezielt das Gewicht auf einen Beckenknochen zu verlagern, damit das Pferd leichtfüßig in den Galopp federt. Über Hindernisse will sie springen, ausreiten durch Wiesen und Wälder, mit dem Fahrrad zur Schule fahren, den Schulranzen auf dem Rücken tragen. Zum ersten Mal seit Jahren ohne Schmerzen.