Wer Schmerzen hat, will sie loswerden - und zwar so schnell wie möglich. Gut, wenn der Arzt etwas findet, das wirkt. Doch bei Medikamenten ist nicht alles, was gut wirkt, auch immer gut verträglich. Im aktuellen Barmer GEK Arzneimittelreport, einem jährlichen Bericht über den Medikamentengebrauch in Deutschland, ist den Autoren ein Wirkstoff aufgefallen, der 2010 auffallend oft zum Einsatz kam: Metamizol, auch unter dem Namen Novaminsulfon bekannt. In der Liste der 20 in Deutschland am häufigsten verordneten Arzneien tauchen drei Medikamente mit diesem Wirkstoff auf, zusammen wurden sie etwa 1,3 Millionen Mal verordnet.
Hierbei handelt es sich aber um einen kleinen Ausschnitt, da nur die Daten einer Krankenkasse und nur die ambulant verschriebenen Mittel eingerechnet sind. Die tatsächliche Zahl der Verordnungen liegt um ein Vielfaches höher: hochgerechnet und grob geschätzt bei 20 Millionen und mehr. Und eine aktuelle Erhebung der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft belegt: Die Verordnungen steigen kontinuierlich. Die bundesweit eingenommene Zahl von Tagesdosen - ein Wert, der sich aus der Anzahl der Verordnungen und einem von der Weltgesundheitsorganisation bestimmten Faktor berechnen lässt - hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht und stieg von etwa 30 Millionen im Jahr 1999 auf fast 120 Millionen in 2009.
Gefährliche Nebenwirkungen
Der Bremer Pharmakologe Gerd Glaeske, Hauptautor des Arzneimittelreports, spricht von einer "gefährlichen Renaissance eines Schmerzmittels". Denn der Wirkstoff hat gefährliche Nebenwirkungen: Metamizol kann eine allergische Schockreaktion auslösen, die tödlich enden kann. Bedrohlicher ist aber etwas anderes: Die Substanz kann die Bildung der weißen Blutkörperchen, einen wichtigen Bestandteil des Immunsystems, zum Erliegen bringen. Ist ihre Zahl stark vermindert, sprechen Ärzte von einer Agranulozytose. Der Körper kann dann Infektionen, selbst eine banale Entzündung des Rachens, nicht mehr abwehren. Die Zellbildung ist gestört, Patienten können daran sterben. Das Fatale: Patienten merken nicht, dass ihnen weiße Blutkörperchen fehlen. Und wer geht schon wegen Halsschmerzen sofort zum Arzt? Je länger Betroffene aber warten, desto schlechter fällt die Prognose aus.
Ärzten sind diese Nebenwirkungen geläufig. Denn der Wirkstoff ist nicht neu, er wurde bereits Anfang der 20er Jahre eingeführt. In den 70er und 80er Jahren geriet Metamizol aufgrund seiner Risiken in die Kritik. 1986 beschränkte das damalige Bundesgesundheitsamt schließlich die Anwendung: Das Mittel sollte nur bei hohem Fieber und sehr starken Schmerzen eingesetzt werden, etwa bei Koliken, Tumoren oder nach Operationen - wenn andere Maßnahmen nicht greifen.
Hohe Zahl der Verordnungen ist besorgniserregend
In den 90er Jahren waren deutsche Ärzte daher zurückhaltend bei der Verordnung. Doch das änderte sich mit der Zeit - ein Trend, den nicht nur Glaeske mit Sorge beobachtet. "Es ist ein Reservemedikament, kein Mittel der ersten Wahl", sagt Wolfgang Becker-Brüser von der pharmakritischen Zeitschrift "Arznei-Telegramm". "Dass es so oft eingesetzt wird, ist unverständlich. In mehreren Ländern Europas wie Schweden und Großbritannien, auch in den USA, in Kanada und Australien ist Metamizol gar nicht erst zugelassen - aus gutem Grund."
Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), jene Stelle, die über die Zulassung eines Medikaments entscheidet, hat die zunehmende Beliebtheit des Mittels bemerkt und bereits 2009 die Warnung aus den 80er Jahren erneuert: "Metamizol ist ausschließlich zur Behandlung von starken Schmerzen zugelassen (...), falls andere (...) Maßnahmen nicht geeignet sind", heißt es darin. Bei leichten oder mittelschweren Schmerzen darf es nicht angewendet werden.
Lesen Sie im zweiten Teil, wie und warum Metamizol in der Praxis eingesetzt wird und was Patienten beachten sollten, wenn sie es einnehmen.
Offenbar sehr laxe Handhabung in der Praxis
Die steigenden Verordnungszahlen könnten aber darauf hindeuten, dass Ärzte sich nicht unbedingt daran halten und das Mittel auch für nicht zugelassene Indikationen verwenden, mutmaßt ein Sprecher des BfArM auf Anfrage von stern.de. Belegen könne er das jedoch nicht.
Ein Blick in Foren, wo Patienten sich über ihre Krankheiten und Medikamente austauschen, lässt erahnen, wie lax die Handhabung in der Praxis offenbar tatsächlich ist: Metamizol wird gegen Kopfschmerzen verschrieben, bei Osteoporose und mittelstarken Schmerzen, selbst Kindern wird es bedenkenlos gegeben - alles Beispiele, die außerhalb des erlaubten Rahmens liegen.
Ist das Ignoranz? Oder vielleicht eine Fehleinschätzung des Risikos? "Offenbar ist die Wahrnehmung gegenüber den Nebenwirkungen in den letzten Jahren gesunken, weil sie so selten auftreten", sagt Bernd Mühlbauer, Mitglied des Vorstands der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Direktor des Instituts für Pharmakologie am Klinikum Bremen Mitte. "Metamizol wird in Leitlinien bereits gleichwertig neben Mitteln wie Paracetamol aufgeführt. Das darf nicht sein!" Möglicherweise ist aber genau das der Grund, warum Ärzte wieder verstärkt zu dem Mittel greifen.
Das Mittel hat auch Vorteile. Anders als andere gängigen Schmerzmittel greift es zum Beispiel den Magen und die Nieren nicht an. "Bei Patienten mit entsprechenden Vorerkrankungen weichen daher Ärzte auf Metamizol aus, um sie nicht der Gefahr einer Magenblutung, eines Magengeschwürs oder einer Nierenschädigung auszusetzen", sagt ein Schmerztherapeut aus Bremen, der ungenannt bleiben möchte. Das sei vor allem bei älteren Patienten so. "Kein Schmerzmittel ist ohne Risiko. Das wird in der Diskussion oft vergessen."
Mühlbauer wird wegen seiner Kritik an dem zu häufigen Gebrauch von Metamizol oft angefeindet. Befürworter des Mittels werfen ihm vor, die Gefahr zu hoch einzustufen, und fürchten, es bald gar nicht mehr einsetzen zu dürfen. "Darum geht es aber nicht", sagt er. "Es ist ein gutes Schmerzmittel, keine Frage, und hat Eigenschaften, die es von anderen abhebt." So wirke es krampflösend, was bei Nieren- oder Gallenkoliken äußerst wirkungsvoll sei. Auch in der Krebstherapie sei es unentbehrlich. "Abgesehen von den unerwünschten Nebenwirkungen ist Metamizol auch gut verträglich. Daher soll es verfügbar bleiben - aber eben nur dann eingesetzt werden, wenn nichts anderes hilft", betont Mühlbauer. "Die meisten Ärzte haben in ihrer gesamten Laufbahn nicht einen Fall von Agranulozytose erlebt und schätzen das Risiko daher als minimal ein. In der Masse wird es aber problematisch."
Risiko nicht abschätzbar
Bis heute lässt sich nicht genau einschätzen, wie häufig es zu einer Agranulozytose kommt. Studien kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, weshalb so erbittert darum gestritten wird. Eine von der Industrie finanzierte Untersuchung, auf die sich viele Ärzte berufen, kam zu dem Schluss, dass das Risiko unter Metamizol bei etwa eins zu einer Million liege. Laut Mühlbauer sei das viel zu selten. "Eine schwedische Studie ermittelte, dass jeder 1700ste Patient diese Nebenwirkung entwickelt. Das wiederum ist sicher zu hoch gegriffen." Die Wahrheit liege wohl irgendwo dazwischen, zumal auch andere Medikamente diese Blutbildungsstörung auslösen können. "Wir sehen aber einen klaren Zusammenhang zwischen der steigenden Verordnungszahl von Metamizol und dem gehäuften Auftreten von Agranulozytosen. Das ist eine parallele Entwicklung", sagt Mühlbauer. Agranulozytosen müssen der Arzneimittelkommission gemeldet werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass niemand weiß, welche Patienten besonders gefährdet sind. "Einige hatten diese Erkrankung nach einer Woche, andere nach Monaten oder Jahren, manche gleich nach der ersten Einnahme. Es gibt kein Muster", sagt Pharmakologe Mühlbauer. Es gehe nicht darum, das Medikament zu verbieten. "So lange sich das Risiko aber nicht eingrenzen lässt, müssen wir zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit dem Mittel zurückfinden."
Für Patienten ist wichtig zu wissen: "Wer Metamizol einnimmt, sollte sein Blutbild regelmäßig kontrollieren lassen und Infektionen nicht auf die leichte Schulter nehmen, sondern den Arzt sofort darüber informieren", sagt Mühlbauer. So könnten sie selbst etwas dazu beitragen, einen dramatischen Verlauf zu verhindern.