Es riecht nach Zimt- und Orangen statt nach Desinfektionsmitteln. Im Hintergrund läuft ruhige Musik. Nirgends in der Praxis von Horst Freigang ist ein weißer Kittel zu sehen. Eine junge, blonde Frau nimmt auf dem Zahnarztstuhl Platz. Sie ist bleich und wirkt aufgeregt. Seit einer schweren Geburt, bei der sie und ihr Kind beinahe gestorben wären, leidet Andrea Schuster* unter einer massiven Schmerzphobie. Schon der Gedanke an den kurzen Einstich einer Spritze versetzt die Sozialpädagogin in Panik. Doch nun müssen zwei Zähne dringend gezogen werden. Nach einem ausführlichen Vorgespräch und einigen kleinen Tests ist Freigang überzeugt, dass er der 35-Jährigen beide Zähne in nur einer Sitzung entfernen kann – ohne jedes Betäubungsmittel und "ohne dass sie mit der Wimper zuckt". Die Methode, die das möglich macht, ist Hypnose.
Vor allem bei Schmerzphobie und ausgeprägter Zahnarztangst hat sich Zahnbehandlung unter Hypnose bewährt und bei Menschen, die allergisch auf Betäubungsmittel reagieren oder bei denen Berührungen im Mund Würgereize auslösen. Auch langwierige Eingriffe lassen sich mit der Trancetechnik besser ertragen, in körperlich und emotional vollkommen entspanntem Zustand.
Befreit vom Ruch des Mystischen und Hokuspokus, ist Hypnose inzwischen zu einer weitgehend anerkannten zahnmedizinischen Methode aufgestiegen. "Trance" bezeichnet Bewusstseinszustände, in denen die Umgebung, der Körper und die eigene Identität anders erlebt werden als in der gewohnten Alltagsrealität. Einfache Formen von ihr hat fast jeder schon einmal erlebt: durch mitreißende Musik, die in die Glieder fährt; beim Eintauchen in einen spannenden Roman, der die Welt völlig vergessen lässt; während ekstatischer Gruppenerlebnisse im Fußballstadion.
Rund 3000 Zahnärzte nutzen Hypnose
Zwischen aufmerksamer Wachheit und tiefem Schlaf existiert eine ganze Reihe unterschiedlicher Stadien, zwischen ihnen wechselt ein Mensch im Tagesverlauf mehrfach hin und her. Diese Fähigkeit nutzen inzwischen rund 3000 Zahnärzte für ihre Behandlung. Die meisten von ihnen sind wie Horst Freigang in der Deutschen Gesellschaft für Zahnärztliche Hypnose (DGZH) zusammengeschlossen, die sich seit 14 Jahren für eine fundierte Ausbildung und die wissenschaftliche Untermauerung der Methode einsetzt.
Bei schwierigen Fällen holt sich Freigang Unterstützung in seine Berliner Praxis. Regelmäßiger Partner ist der Psychologe Gerhard Schütz. Während der Zahnarzt und seine Assistentin den Eingriff vorbereiten, bittet Schütz die Patientin mit ruhiger, weicher, melodischer Stimme, die Augen zu schließen und sich einen schönen Ort vorzustellen, an dem sie sich "uneingeschränkt wohlfühlt". Nach Indien, zum Ganges, möchte sie. Das soll ihre "Ruheinsel" sein.
Auf die Fantasiereise eingestimmt
Der Psychologe stimmt die Frau auf ihre Fantasiereise ein – die Leuchte im Zimmer wird zur Sonne, das Gurgeln des Saugers zum Rauschen des Flusses. Irgendwann beginnt auch Freigang, sonor und rhythmisch mit der Patientin zu sprechen: "Alles, was sie hier erleben, dient ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden. Immer mehr, immer mehr gehen Sie in einen Zustand tiefer Entspannung. Immer mehr, immer mehr ..."
"Doppelinduktion" nennen Hypnotherapeuten diese Methode. Die Patientin hat Schwierigkeiten, beiden gleichzeitig zuzuhören. Es strengt sie an, doch sie will sich ja entspannen. Sie flieht vor dem Druck in ihre Vorstellungswelt. Die Stimmen entfernen sich immer mehr, immer mehr ...
Die Gesichtszüge der Frau sind nun weicher, die Augen geschlossen, der Mund ist locker geöffnet. Sie atmet ruhig und gleichmäßig. Sanft streicht Horst Freigang mit dem Rücken seines Zeigefingers über ihre Schläfen. "Die Trance ist jetzt tief und fest", kommentiert er.
Um sicherzugehen, dass die Hypnose funktioniert, überprüft Schütz die Trancetiefe: "Wenn Sie entspannt sind und sich wohlfühlen, steigt Ihr linker Arm langsam nach oben, wie von selbst, ohne Kraft, ohne jede Anstrengung." Als würde er schweben, beginnt Andrea Schusters Arm, Millimeter um Millimeter nach oben zu steigen.
Beherzt greift nun der Zahnarzt zur Zange. Ein kurzer Ruck, und Zahn Nummer eins landet blutverschmiert in der bereitstehenden Glasschale. Die Patientin stöhnt nicht, zuckt nicht einmal. Der zweite Zahn sitzt etwas fester. Aber auch, als er gezogen wird, zeigt sie keine Reaktion. Nach etwas mehr als 20 Minuten ist die Behandlung abgeschlossen.
"Was, schon fertig?", fragt Andrea Schuster. Höchstens zehn Minuten seien vergangen, schätzt sie. Geborgen und "wie in Watte gepackt" habe sie sich gefühlt. Zwar habe sie den Druck der Zange gespürt und ein leichtes Brennen, aber es habe sie gar nicht interessiert. "Meine Reise zum Ganges war viel zu schön, als dass ich von dort wegwollte. Außerdem war ich viel zu träge." Das Beste: "Die Angst vor den Schmerzen war komplett ausgeblendet." Mit leichter Verwunderung in den Augen, aber über das ganze Gesicht strahlend, verabschiedet sich die Patientin: "Also dann bis zum nächsten Mal. War richtig schön!"
Es passiert nichts, was der Hypnotisierte nicht will
"Dabei hatte sie große Bedenken", sagt Horst Freigang, weil sie angeblich "ein ziemlicher Verstandesmensch" sei und sich schwer tue, die Kontrolle über sich aufzugeben. Während einer Hypnose willenlos ausgeliefert zu sein ist eine der größten Befürchtungen, mit denen sich Hypnosezahnärzte regelmäßig konfrontiert sehen. Doch es geschehe nichts, was der Hypnotisierte nicht wirklich will, betont Gerhard Schütz. Er werde mit Worten durch die Hypnose gelenkt wie ein Autofahrer mit Schildern durch den Verkehr. "Ob der Patient den Wegweisern folgt, entscheidet er selbst." Man bekomme alles mit, doch was außen herum passiert, interessiere einen viel weniger als die Vorstellungswelt, auf die man sich konzentriert.
Zahlreiche Untersuchungen haben belegt, dass niemand in hypnotisiertem Zustand gezwungen werden kann, etwas zu tun, das er bei wachem Verstand ablehnen würde. In therapeutischer Trance hat der Patient jederzeit die Möglichkeit, aus dem veränderten Bewusstseinszustand auszusteigen.
10 bis 20 Prozent nur schwer hypnotisierbar
Dennoch kommt es bei Menschen, die besonders leicht in Trance geraten, gelegentlich zum Phänomen der unwillkürlichen "Streuhypnose". Schmunzelnd berichtet Freigang von einer Situation, die sich bei Dreharbeiten in seiner Praxis ereignet hat: Einem Patienten sollten vor laufender Kamera unter Hypnose 19 Zähne gezogen werden. Der für den Ton zuständige Kameraassistent hörte die Suggestionen der Hypnotiseure über Mikrofon und Kopfhörer mit. Kaum hatte Gerhard Schütz die Formel "Manchmal verschwimmen die Dinge vor den Augen" ausgesprochen, da entspannte der fast zwei Meter große Tonmann all seine Muskeln und ging zu Boden.
Derart stark von einem Hypnoseritual beeinflussbar ist nach neueren Untersuchungen bis zu ein Viertel der Bevölkerung. 10 bis 20 Prozent sind entweder gar nicht oder nur sehr schwer hypnotisierbar. Die Empfänglichkeit der Übrigen liegt irgendwo dazwischen. Am leichtesten fällt das Hinübergleiten in einen Trancezustand Menschen, die über eine ausgeprägte bildhafte Vorstellungskraft verfügen. Daher funktioniert Hypnose auch bei Kindern oft sehr gut.
Die zehnjährige Nadia mag grundsätzlich keine Arztpraxen. Sie kann schon die Gerüche nicht leiden. Doch zum Hypnosezahnarzt Horst Dammann in Garding, unweit des Nordseebads St. Peter-Ording, geht sie inzwischen "eigentlich ganz gerne". Auf dem Weg ins Behandlungszimmer darf sie sich aus einem Schatzkästchen einen Halbedelstein als Talisman angeln. Nachdem sie vor längerer Zeit bereits eine Hypnosebehandlung erhalten hat, setzt sie sich ganz selbstverständlich, ohne zu zögern, auf den Hightech-Zahnarztstuhl.
Ohne Vertrauen keine Hypnose
"Die Leute müssen sich wohlfühlen und Vertrauen entwickeln, damit die Hypnose funktioniert", sagt Dammann. Seine Ausstrahlung macht es dem 62-Jährigen leicht: gemütlicher weißer Schnauzer, ausgeprägte Lachfalten, humorvolle Augen, kleiner Genießerbauch, selbstbewusstes, verbindliches Auftreten. Seine "Vermummung", wie er den Mundschutz nennt, legt der Zahnarzt erst an, wenn die Hypnosepatienten bereits auf ihrer "Trancereise" sind.
Beim letzten Mal hatte Nadia während der Behandlung in ihrer Vorstellung Handball gespielt. Solche sportlichen Fantasien haben sich in der Hypnose bewährt, weil sich viele Menschen gut in aktive Wettkampfsituationen hineindenken können. Diesmal möchte die Schülerin jedoch gern in Gedanken ihr Kaninchen an die Leine nehmen und damit im Garten spazieren gehen. Assistentin Karin Gräschat organisiert eine Kordel, die als Leine dienen soll. Ein Kaninchen ist leider nicht im Sortiment, also muss die Maulwurfhandpuppe "Grabowski" als Stellvertreter herhalten. Sie kommt auf Nadias rechte Hand.
Unten links ist seit längerer Zeit ein Milchbackenzahn entzündet. "Der muss jetzt raus", sagt Dammann. "Wenn du in deinem Traum dein Kaninchen an der Leine führst, wirst du merken, dass es immer etwas an der Leine ruckelt." Das Rütteln mit der Zange am Zahn soll später für Nadia mit dem Hinundherflitzen des Kaninchens verschmelzen.
Mit Betäubung kombiniert
Als das Mädchen in einer stabilen Trance ist, injiziert Dammann zusätzlich eine geringe Menge Betäubungsmittel in das Zahnfleisch rund um den kranken Zahn. Nur in Ausnahmefällen – wenn beispielsweise eine Betäubungsmittelallergie vorliegt – zieht er unter Hypnose ganz ohne Schmerzmittel. "Wer das unbedingt will", sagt der Zahnarzt, "muss allerdings bis zu 200 Euro dafür bezahlen, deutlich mehr, als ich sonst für einen Hypnoseeinsatz verlange." Er wolle damit sicherstellen, dass das Anliegen auch wirklich ernst gemeint ist. Eine normale Hypnose, wie sie Nadia erhält, kostet bei ihm 30 Euro für zehn Minuten.
Während er die Zange am kranken Zahn ansetzt, spricht Dammann langsam: "Wenn das Kaninchen schnell durchs Gelände läuft, kann es sein, dass es ein wenig stolpert." Vorsichtig schaukelt er die Zahnwurzel aus ihrer Verankerung im Kiefer. "Jetzt geht das Kaninchen nach links, nach rechts, nach links ...", sagt er im Takt seiner Bewegung, bis sich der stattliche Milchzahn löst. Rasch versorgt er mit Unterstützung seiner Assistentin die Wunde. "Und dann zählen wir rückwärts, von fünf nach eins. Wenn du dann bei eins spürst, dass das Kaninchen ganz toll an der Leine zerrt, dann darfst du dir das Gesicht reiben und völlig schmerzfrei und fröhlich nach Hause gehen." Noch etwas benommen sagt Nadia kurze Zeit später mit leiser Stimme: "Hab gar nichts gespürt." Den Zahn bekommt sie als Trophäe, den glitzernden Stein als Glücksbringer.
"Das Schöne ist", sagt Horst Dammann, "dass man selbst während der Hypnosebehandlung in einen etwas anderen Bewusstseinszustand kommt, man ist entspannter, lockerer und gleichzeitig viel konzentrierter. Ich arbeite dabei 20 bis 30 Prozent schneller." Auf dem Weg zum nächsten Patienten summt er zufrieden vor sich hin.