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Kariesbehandlung Bekenntnisse eines Zahnarzt-Hoppers

Karies? Kann sein – oder nicht sein. Bei der Diagnose bestehen große Spielräume
Karies? Kann sein – oder nicht sein. Bei der Diagnose bestehen große Spielräume
© Colourbox
Zeit seines Lebens nahm unser Autor Bernhard Albrecht vor Zahnärzten Reißaus, die schnell bohren wollten. Bei seiner Recherche stellte der Journalist und Arzt fest: Oft ist er zu Recht geflohen.
Von Bernhard Albrecht

Kennen Sie einen guten Zahnarzt?“ Stellen Sie diese Frage mal auf einer Party. Oder besser: Tun Sie es nicht, wenn Sie von Ihrem Gastgeber noch einmal eingeladen werden wollen, denn Gespräche über Zahnärzte dauern Stunden, machen schlechte Laune und sind richtige Partykiller. Ich habe es neulich gewagt und mich selbstverständlich tags darauf bei meiner Gastgeberin mit Blumen entschuldigt. Pure Not hatte mich zu meiner Frage getrieben. Ich bin bekennender Zahnarzt-Hopper – sobald ich die leisesten Zweifel an einem Zahnarzt habe, suche ich einen anderen auf. Und jetzt war es mal wieder so weit.

Angeblich sollen ja 95 Prozent der Deutschen mit ihrem Zahnarzt zufrieden sein. Aber ich schwöre Ihnen: Unter 15 Gästen der Party fand ich keinen, der sagte: „Ja, meinen kann ich dir empfehlen!“ Stattdessen walzte jeder seine Horrorgeschichten aus und füllte sie mit dramatischen Details.

Praxen mit Selbstverpflichtung

Zahnärzte, die sich dem Projekt Qualitätssicherung angeschlossen haben, dürfen dessen Logo verwenden. Adressen nennt auf Anfrage die Geschäftsstelle des Deutschen Arbeitskreises für Zahnheilkunde (DAZ) im NAV-Virchowbund, Belfortstraße 9, 50668 Köln, Tel.:0221/97 30 05-45, kontakt@daz-web.de Die Selbstverpflichtung umfasst u. a., nur auf ausdrücklichen Patientenwunsch über den tatsächlich nötigen Behandlungsbedarf hinauszugehen und die Garantie auf ihre Leistungen zu verlängern.

Zum Beispiel mein Freund Malte: Fünf fehlerhaft gelegte Inlays hatte sein neuer Zahnarzt gefunden, unter denen die Karies wucherte – fünf qualvolle Wurzelbehandlungen waren die Folge, und zahllose Sitzungen über mehrere Monate. Oder Antje: Weil ein Zahnarzt, wie sie sagt, nicht erkannte, dass in der Wurzel ihres Frontzahns eine Entzündung wütete, breitete diese sich aus und löste den Kieferknochen unter dem Zahn großflächig auf. In mehreren Operationen bauten Kieferchirurgen ihn wieder auf, erzählt sie, aber immer noch müsse sie fürchten, dass das teure Implantat nicht halte.

Im Vergleich dazu sind meine Probleme banal. Zwar bekomme ich alle paar Jahre eine Füllung verpasst, und jetzt steht die erste Zahnkrone an, aber trotz meiner bald vierzig Jahre habe ich noch das komplette Gebiss und nie eine Wurzelbehandlung erleiden müssen.

Im Zweifel gegen den Bohrer

Meine Philosophie ist einfach auf den Punkt gebracht: Immer wenn ein Zahnarzt an zu vielen Zähnen bohren will, nehme ich Reißaus. Das mag feige und unvernünftig klingen, aber ich habe drei Zeugen aus dem Zahnarztstand, die mir in den vergangenen zwanzig Jahren bestätigt haben, dass ich richtig gehandelt habe. Das rätselhafte Problem ist, dass ich immer wieder auf Zahnärzte treffe, die vier, fünf oder mehr kariöse Stellen in meinem Mund entdecken, die angeblich dringend saniert werden müssen – und dass wiederum andere Zahnärzte sagen, sie sähen keinen oder kaum Behandlungsbedarf. Mein letzter „Hauszahnarzt“ Dr. O. war einer von den guten, die dem Motto „So wenig bohren wie möglich“ folgen. Drei Zahnärzte hatte ich verschlissen, bis ich ihn gefunden habe.

Lesen Sie mehr im in stern GESUND LEBEN 4/08

Eine Teilkrone aus Gold für 1000 Euro

Warum ich ihm jetzt trotzdem untreu werde, nach vier guten, vertrauensvollen Jahren? Nun, vor drei Wochen brach eine teure, große Kunststofffüllung heraus, die er erst ein Jahr zuvor gelegt hatte. Sie hinterließ eine tiefe Zahnschlucht in meinem Mund, in die meine Zunge seitdem fast zwanghaft hinein- wandert. Dr. O. sah sich den Schaden an und erklärte mir, dass ich auf einen Stein gebissen haben müsse, das sehe man, an der Füllung sei alles in Ordnung gewesen. Ich glaubte ihm, obwohl ich mich an keinen Stein erinnern konnte. Erst als er mir erklärte, dass jetzt eine Teilkrone aus Gold fällig sei und ich dafür aus eigener Tasche 1000 Euro zahlen müsste, wurde ich skeptisch, telefonierte mit meiner Krankenkasse und erfuhr, dass Teilkronen normalerweise nicht einmal halb so viel kosten.

Ich beschloss, eine zweite Meinung einzuholen, und folgte der Empfehlung einer Arbeitskollegin – sie ist die Einzige in meinem Bekanntenkreis, die seit acht Jahren derselben Zahnärztin treu ist und auf sie schwört. Schon als ich die Homepage der Praxis sah, hätte ich skeptisch werden sollen. Von „Dental Wellness“ und „Wohlfühleffekt“ war da die Rede, „Ästhetische Rekonstruktion“ und „Bleaching-Verfahren“ standen ganz oben auf der Hauptseite. Aber tatsächlich fühlte ich mich zunächst wohl auf ihrem Zahnarztstuhl. Zwei sehr hübsche und äußerst aufmerksame Assistentinnen scharwenzelten um mich herum, und Frau Dr. D. schenkte mir zur Begrüßung ihr freundlichstes Lächeln, das ihre strahlend weißen Zähne freilegte.

Dann diktierte sie ihrer Assistentin: „Einsacht C, einssieben C, einssechs C …“ Mein Herz begann wild zu pochen. „Eins“ steht für die acht Zähne des rechten Oberkiefers, „C“ für Karies. Das kann doch nicht sein, dachte ich, seit vier Jahren gehe ich jedes Jahr zweimal zur großen Inspektion bei meinem Zahnarzt, immer war alles in Ordnung gewesen, und jetzt das. Außer meinem Zahnkrater stufte Frau Dr. D. sechs Zähne als behandlungsbedürftig ein. Vielleicht bringe ich sie zur Vernunft, dachte ich, wenn ich ihr sage, dass ich schon immer ein Problem mit Verfärbungen an den Zähnen hatte. Ich erzählte ihr von meinem Bundeswehrzahnarzt, der mir vor 20 Jahren neun dringend behandlungsbedürftige Zähne attestiert hatte – nur zwei Monate später hatte mir mein damaliger Hauszahnarzt erklärt, dass er nur an zwei Stellen behandeln würde, die anderen Defekte seien als „Schmelzdefekte“ einzustufen und würden aller Voraussicht nach in Bälde von selbst „remineralisieren“, wenn ich sie gut pflegte.

„Nein, also da bin ich mir sicher, das ist eindeutig Karies, was Sie da haben. Ihr Bundeswehrzahnarzt von damals hatte recht!“, erklärte Frau Dr. D. mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete. „Keine Ahnung, warum Ihr bisheriger Zahnarzt das anders sieht, aber das ist so eindeutig, damit würde ich jederzeit gegen diesen Kollegen vor Gericht bestehen.“ Eigenartig, dass ihr gleich das Gericht in den Sinn kam, so weit hatte ich gar nicht gedacht. „Ich muss ehrlich sagen“, und jetzt sah sie mich fast mitleidig mit ihren blauen Augen an, „ich war ein bisschen erschrocken, als ich in Ihren Mund geschaut habe. Solche Zähne … das passt gar nicht zu einem Typ wie Ihnen. Wenn Sie mein Sohn wären, ich würde Sie so nicht rumlaufen lassen.“

Ich wollte ihr so gern glauben, aber dann setzte Frau Dr. D. noch einen drauf. Für meinen Zahnkrater, wegen dem ich eigentlich da war, würde sie mir von Gold abraten, sagte sie, weil ich Amalgam im Mund hätte. Stattdessen empfahl sie mir eine Kunststofffüllung – natürlich besser als die von ihrem Vorgänger – oder ein Keramik-Inlay. Kosten: 170 beziehungsweise 500 Euro, also maximal halb so viel, wie mein Hauszahnarzt veranschlagt hatte. Ich war in einem Dilemma: mein Hauszahnarzt Dr. O. war ein gerissener Geschäftsmann, aber nach meiner Überzeugung ein kompetenter Zahnarzt, Frau Dr. D. hingegen war preislich ein echtes Schnäppchen, wollte mir aber dafür das halbe Gebiss aufbohren. Ein dritter Zahnarzt musste her.

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Patienten sollen kritisch sein

Ich wählte Dr. Eberhard Riedel, und um es vorwegzunehmen: Ich glaube, mit ihm vorerst ans Ende meiner Zahnarzt- Odyssee gelangt zu sein. Er passt genau ins Raster eines überkritischen Zahnarzt- Hoppers, wie ich es bin. Riedel ist Mitbegründer des Projekts Qualitätssicherung des Deutschen Arbeitskreises für Zahnheilkunde DAZ. Er schrieb einen Leitfaden für kritische Zahnarztpatienten, in dem er kein Blatt gegenüber geldgierigen Kollegen vor den Mund nimmt. Und: Er ist nicht böse, dass er schon der dritte Zahnarzt ist, den ich in derselben Sache aufsuche. Im Gegenteil, er zeigt Verständnis für mein Anliegen. „Leider verscherzen sich heutzutage viele Kollegen das Vertrauen ihrer Patienten mit überteuerten Kostenvoranschlägen, fehlender Aufklärung und übertriebenen Therapiemaßnahmen. Da ist eher derjenige Patient als unvernünftig anzusehen, der keine Zweit- oder Drittmeinung einholt.“

Nachdem Dr. Riedel mein Gebiss in Augenschein genommen hatte, blieb von den Therapievorschlägen seiner beiden Vorgänger nichts übrig. Für meinen Zahnkrater kämen weder Teilkrone noch Inlay und vor allem keine Kunststofffüllung mehr infrage, weil der Zahn dafür nicht mehr genügend Halt biete. Eine Vollkrone sei die einzige dauerhafte Lösung, und die bot er mir für insgesamt 400 Euro an. Ich resümiere: Drei Zahnärzte hatten zusammengenommen vier Meinungen dazu, wie mein Defekt zu behandeln sei, die Kosten variierten zwischen 170 und 1000 Euro. Von den sechs Zähnen, die Frau Dr. D. als zusätzlich behandlungsbedürftig ansieht, bleibt nach Riedels Meinung einer übrig, ein Zahn, dessen Füllung bröckele und „irgendwann mal“ zu erneuern sei. Aber das habe noch etwas Zeit, denn Karies sei nicht zu sehen.

Karies ist relativ

„Wie können Zahnärzte zu so un- terschiedlichen Meinungen gelangen?“, fragte ich ihn. Ist denn behandlungs- bedürftige Karies nicht ein eindeutiger, „objektiver“ Befund, hopp oder topp? Bei der Diagnostik von Karies gebe es große Beurteilungsspielräume, antwortete Riedel. „Solange ein Defekt nur den Schmelz oberflächlich geschädigt hat, kann er von selbst wieder remineralisieren, aber sicher vorhersagen kann das keiner.“ Eine Grundregel: Sei die Oberfläche des Zahnschmelzes noch nicht eingebrochen, stünden die Chancen gut, dass ein Defekt von selbst ausheile. Bei der Untersuchung spüre der Zahnarzt mit der Sonde den Unterschied, denn am eingebrochenen Zahnschmelz bleibe die Spitze hängen. Allerdings gelange man mit der Sonde nicht überallhin, wo Karies gedeihen könne, zum Beispiel nicht in die Zahnzwischenräume.

Bei der Wahl des Zeitpunktes, wann er zum Bohrer greife, müsse der Zahnarzt berücksichtigen, ob der Patient regelmäßig zur Kontrolle in der Praxis erscheine oder zum Beispiel eine einjährige Expedition vor sich habe, sagt Riedel. Außerdem müsse er einschätzen, wie gut ein Patient seine Zähne anschließend wirklich pflege. „Wenn ich das Gefühl habe, der Patient ist verlässlich, dann riskiere ich es gerne, abzuwarten und den Defekt nur zu beobachten.“ Riedel und seine Kollegen vom Projekt Qualitätssicherung des DAZ raten, jede Behandlung gründlich abzuwägen. Denn: „Wenn man behandelt, opfert man immer gesunde Zahnsubstanz, und der Zahn wird anfälliger für weitere Probleme.“ Um Karies restlos zu beseitigen, müsse der Zahnarzt mit dem Bohrer ins gesunde Zahngewebe vordringen.

Selbst wenn die Füllung nach allen Regeln der Kunst gelegt werde, sei der Zahn in Zukunft anfälliger, so Riedel: „Durch den ständigen Kaudruck können mit der Zeit Füllungsanteile und Teile der Zahnwand rausbrechen, dann entstehen Spalten, durch die die Bakterien vordringen und neue Karies verursachen können.“ Fünf Füllungen vertrage ein Zahn nacheinander, dann sei die Krone fällig, so laute eine Daumenregel für Zahnärzte. Ich wähne mich nahe an der Antwort auf eine Frage, die mich immer wieder gequält hat: Wer hatte recht unter den zwölf bis fünfzehn Zahnärzten, deren Dienste ich als Erwachsener in Anspruch genommen habe? Ich rolle meinen Fall auf, was nicht einfach ist: Häufig habe ich die Stadt gewechselt, war drei Jahre im Ausland, war bei vielen Zahnärzten nur einmal gewesen und dann nie wieder.

Ich schaffe es, die Befunde und Behandlungspläne von acht Vertretern der Zunft einzuholen. Mit Dr. Riedel sichte ich alles, und er stellt fest: An acht Zähnen wollten verschiedene Zahnärzte Eingriffe vornehmen, die er aus heutiger Sicht für nicht gerechtfertigt hält. Der beste Zeuge für seine These sei mein „Einssiebener“, der zweithinterste Backenzahn rechts oben: Vor 20 Jahren betrachtete ihn mein Bundeswehrzahnarzt als kariös und behandlungsbedürftig. Bis heute hat er keine Füllung und – vertraut man Dr. Riedel – keinerlei Spuren einer beginnenden Karies. Vielmehr handele es sich bei dem Defekt um eine vermutlich schon im Kindesalter entstandene Verfärbung einer sogenannten Fissur, also einer natürlichen Einfurchung des Zahnes.

Bei Kindern entwickle sich Studien zufolge aus solchen „Fissur-Verfärbungen“ in der Hälfte der Fälle Karies. In der anderen Hälfte remineralisiere der Defekt, die Verfärbung bleibe dennoch ein Leben lang bestehen. Den „Einssiebener“ wollten noch fünf weitere Zahnärzte behandeln. „Klassische Fehldiagnose“, sagt Riedel.

Wenn Sie sich nach dem Lesen dieses Artikels auch zum Zahnarzt-Hopping entschließen sollten, gebe ich Ihnen als erfahrener Praxis-Vagabund zwei wertvolle Tipps mit, die ich in meinem jugendlichen Leichtsinn nicht beachtete: Der erste: Aus Misstrauen jahrelang gar nicht zum Zahnarzt zu gehen ist die schlechteste Lösung. Suchen Sie stattdessen so lange, bis Sie den Richtigen finden, denn Zahnarzt-Hopper, das will ich Ihnen nicht vorenthalten, haben einer Studie zufolge schlechtere Zähne als Zahnarzt- Treue. Mein zweiter Tipp: Wenn Ihnen Ihr Zahnarzt zutraut, dass Sie einen Schmelzdefekt mit gewissenhafter Zahnpflege selbst besiegen können, dann befolgen Sie seinen Rat und pflegen Sie!

Ich selbst bin am Ziel: Strahlend werde ich auf der nächsten Party verkünden, dass ich endlich den Zahnarzt meines Vertrauens gefunden habe. Dass von zwei Zahnärzten immer derjenige recht hat, der (noch) nicht bohren will. Dass, wenn beide bohren wollen, man nicht zögern sollte, noch einen dritten zu konsultieren. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung. Ich gründe sie auf die Einschätzung von drei der Zahnärzte, die mich behandelten. Fünf ihrer Kollegen waren ganz anderer Ansicht. Übertragen auf die deutsche Zahnärzteschaft, hätte ich zwei Drittel der Zunft gegen mich.

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