Christel Nollen, 83, sitzt meist in ihrem vanillefarbenen Fernsehsessel am Fenster. Viel Abwechslung gibt es in Corona-Zeiten nicht. Einige Bewohner des Altenheims hat sie ein Jahr lang nicht gesehen. Die ehemalige Dekorateurin vermisst die Gesellschaft, das gemeinsame Essen im Kaminzimmer. Zu den Mahlzeiten hat sich Christel immer hübsch gemacht, Rouge aufgetragen, die Perlenkette umgelegt und sich auf nette Gespräche gefreut. Das war der Höhepunkt des Tages. Nun verlässt sie ihr Zimmer gar nicht mehr.
Die Tage verlaufen eintönig und vorhersehbar
„Meine Mutter ist seit Februar 2017 im Alten- und Pflegeheim St. Johannis in Hamburg-Rotherbaum“, erklärt Nina Catharina Nollen. „Sie hat sich dort sofort wohlgefühlt – auch, weil sie interessante Bekanntschaften gemacht hat. Es wohnen tolle Persönlichkeiten in dem Haus. Die hätte sie woanders nie getroffen.“
Dazu gehört z. B. eine über 90-jährige Journalistin, die spannende Geschichten erzählen kann. Die meisten Bewohner sind älter als Christel Nollen. Daher hat sie sich liebevoll um die „alten Leute“ gekümmert: den Stuhl zurechtgerückt und dafür gesorgt, dass jeder ordentlich am Tisch saß. „Der Mensch braucht ja Aufgaben“, sagt ihre Tochter. „Und wir drei Schwestern haben uns sehr darüber gefreut, dass unsere Mutter im Altenheim wieder so aktiv wurde.“
Zurzeit verlaufen die Tage allerdings eher eintönig und vorhersehbar. Daher besucht Nina Nollen ihre Mutter, so oft sie kann. „Außerdem freue ich mich auch auf Silke Burmester, die hier zweimal in der Woche das Abendessen verteilt“, sagt Christel Nollen. „Sie fiel mir sofort auf, weil sie so eine starke Persönlichkeit ist und ein angenehmes Wesen hat: humorvoll, verlässlich und gradlinig.“
Abendbrot zu servieren ist eine Herausforderung
Silke Burmester arbeitet im Altenheim auf 450-Euro-Basis. Hauptberuflich ist sie Journalistin und hat im November das Onlinemagazin „Palais F*luxx“ für Frauen ab 47 gegründet.
Eine aufregende Sache, die sie voll in Anspruch nimmt. Und trotzdem findet sie noch Zeit für die Senioren. Wie kam sie dazu? „Die Heimleiterin Sabine Kalkhoff ist eine Freundin von mir“, berichtet die 55-Jährige. „Als sie Unterstützung für die Küche brauchte, bin ich eingesprungen.“
Das war im Mai 2020. Damals waren Silke wegen Corona gerade alle Aufträge weggebrochen. „Es ging um Moderationen und Aufträge als Dozentin – plötzlich wurde alles abgesagt“, erinnert sie sich. „Ich saß ja ohnehin zu Hause rum, dann konnte ich um 17 Uhr auch ins Altenheim gehen und das Abendbrot verteilen.“
Wer jetzt denkt: „Kein Problem, jeder kriegt ‘nen Becher Tee und ein paar Stullen“, macht sich die Sache zu einfach. Im Haus St. Johannis bekommen die BewohnerInnen ein individuelles Abendbrot: Die eine Person belegt ihr Brot selbst, die andere bekommt es schon belegt, die nächste erhält es in fertigen Häppchen. Die eine möchte gerne Gurke, die andere lieber Obst dazu. Mit den Tees verhält es sich ähnlich: Da gibt es verschiedene Sorten. Wer nimmt wie viele Stückchen Zucker hinein? Für wen muss die kleine Aluverpackung von Marmelade aufgerissen werden, wem erzählt werden, welches Obst da heute auf dem Teller liegt? Aufgepasst! Denn läuft es nicht wie gewohnt ab, sind einige Senioren stark verunsichert. Entsprechend aufmerksam muss Silke beim Servieren vom vollgepackten Wagen sein. Von den 50 Heimbewohner*innen, die in der Gründerzeitvilla nahe des Alsterufers leben, versorgt sie 30, die noch relativ fit sind. Um die schwer Dementen und Pflegebedürftigen kümmern sich Fachkräfte.
Manchmal kann man sich das Lachen kaum verkneifen
Wenn das Leben nicht mehr so viel Abwechslung bietet, sind Kleinigkeiten wichtig. Bei manchen Damen muss Silke die Glocken, die das Essen abdecken, drauflassen. „Bei einer anderen Bewohnerin hingegen muss ich den Deckel abnehmen, sonst isst sie nicht. Die alte Dame muss das Essen sehen“, hat die Chefredakteurin festgestellt. „Als ich hier im Altenheim anfing, war die Seniorin noch ziemlich fit, dann kam das Virus. Ich habe deutlich gemerkt: Die Isolierung durch Corona beschleunigt den geistigen Abbau. Menschen brauchen einfach Kontakte, um im Kopf fit zu bleiben.“
Manchmal fällt es auch schwer, sich das Lachen zu verkneifen. Eine Bewohnerin kontrolliert jedes Mal das Abendbrot und sagt dann: „Ja, das ist in Ordnung!“ Viele Handlungen sind ritualisiert und man spürt deutlich die Eigenarten der BewohnerInnen. In diesem Haus wird darauf Rücksicht genommen. Ziel ist es, ihnen die größtmögliche Lebensqualität zu bieten. Da muss man auch schmunzeln, wenn sich eine alte Dame nicht impfen lassen möchte, weil die Langzeitwirkungen ja noch nicht erforscht sind. Die Frau ist 94!
„Einige haben am Anfang ausgetestet, wie weit sie bei mir gehen können“, erinnert sich Silke. „Da sollte ich dann jede Menge Extraaufgaben übernehmen. Zum Glück bin ich ja nicht auf den Mund gefallen und habe freundlich, aber entschieden klargemacht, dass das nicht geht.“
Am Ende ist das Leben auf ein einziges Zimmer reduziert
Vorher war die 55-Jährige noch nie so konkret mit dem konfrontiert, was Alter bedeutet. Die größte Herausforderung für sie war auszuhalten, dass das ganze Leben am Ende auf ein einziges Zimmer reduziert ist.
„In diesem Heim wohnen überwiegend Akademikerinnen mit vielen Büchern und – wie im Fall von Christel Nollen – echten Ölbildern an den Wänden. Keine Kalenderdrucke, sondern richtige Kunst“, sinniert Silke. „Die Zimmer sind hell und groß, man kann seine eigenen Möbel mitbringen. Und dennoch: Achtzig Jahre sind auf ein Zimmer zusammengeschrumpft. Das hat auch etwas Trauriges. Corona hat alles noch schwieriger gemacht.“
Normalerweise ist viel Leben im Haus, vor allem am Nachmittag. Da werden Musiktherapie, Qigong, Gartengruppe, Tanztherapie und Handarbeit offeriert. Eine Ergotherapeutin kommt regelmäßig und bietet dreimal die Woche Gymnastik an. Jetzt ist es sehr ruhig.
Zu Christel Nollen geht Silke besonders gern, weil es dort so wunderbar riecht. Fast wie in einer Parfümerie. „Ich mag ihre Freundlichkeit und Wertschätzung. Eine sehr interessierte Frau“, schwärmt Silke. „Mir macht die Arbeit im Altenheim viel Freude. Ich habe generell gern Kontakt zu Leuten und mag die Situation zu geben. Ob früher bei einem Job in der Kneipe oder auf dem Biomarkt. Außerdem macht es den Kopf frei und ist ein guter Ausgleich, denn sonst kenne ich ja nur Kopfarbeit. Wenn ich in die Zimmer der Seniorinnen komme, nehme ich mir immer vor, dass sie einmal lachen oder einen netten Moment mit mir haben sollen.“
Wie werden wir selbst altern?
Auch Silkes journalistische Arbeit dreht sich um das Thema Altern, deshalb ist der Dienst im Haus St. Johannis für sie besonders spannend. „Ich finde, hier sitzt eine ganz interessante Generation von Frauen. Darunter sind Ärztinnen und andere Intellektuelle, die zu einer Zeit studiert haben, als das für Frauen noch nicht selbstverständlich war. Davor habe ich großen Respekt.“
Wie geht Altern heute? 2050 wird es mehr als doppelt so viele ältere wie junge Menschen geben. „Die Gesellschaft steht mit dem Kippen der Alterspyramide ja vor einer großen Aufgabe. Es gibt ganz neue Altersbilder“, sagt Silke Burmester. „Trotzdem habe ich keine Angst vor dem Alter!“