Yvonne Petrich in der Grundschule „An der Haake“ in Hamburg-Hausbruch zu finden ist einfach – da, wo die meisten Kinder sind, steht sie mittendrin. Die Frau mit dem auffälligen Haarschopf hat einen guten Zugang zu Kindern. Die ausgebildete Gewaltpädagogin wird respektiert, nicht zuletzt, weil sie deren Sprache spricht: „Ey, was geht?“
„Ich bin mit den Kindern auf Augenhöhe, aber nicht auf ihrem Niveau“, erklärt die 39-Jährige. Natürlich hat sie auch TikTok, das chinesische Videoportal, was ihre Schüler „voll krass“ finden. Yvonne Petrich ist gleichzeitig Vertrauensperson und Mutterfigur.
Unser Interview macht sie ein bisschen verlegen. „Eine Bekannte hat mich zur Gewinnerin der Herzen gekürt“, sagt sie. „Ich habe ihrem Sohn in einer Mobbing-Situation geholfen. Zuerst war er Opfer, dann wurde er selbst zum Täter. Ich habe den Jungen zum Kickboxen gebracht, damit er sich besser kennenlernt und seine Kräfte einschätzen kann. Außerdem wird ihm dort vermittelt: ,Wenn du jemanden angreifst, machst du dich im schlimmsten Fall strafbar‘.“
Die zierliche Yvonne hat sich in der Grundschule „An der Haake“ auf das Thema Mobbing spezialisiert. Spott, Lästereien, Herumschubsen, Schlagen – kein neues Problem, aber eines, das stark zugenommen hat.
Schule als Ort der Qual
In Deutschland wird fast jede(r) sechste 15-Jährige regelmäßig Opfer von Cyber-Mobbing an seiner Schule. In den letzten drei Jahren stieg die Zahl um 36 Prozent. Das sind fast 2 Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland! Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des Bündnisses gegen Cybermobbing in Kooperation mit der Techniker Krankenkasse.
Beim Cybermobbing wird das Smartphone zur digitalen Waffe: „Du bist fett wie ein Schwein!“, „Ich bringe dich um!“, steht da zum Beispiel. Viele Jungen und Mädchen haben Angst, in die Schule zu gehen, leiden an Übelkeit, Magenschmerzen, Schlafstörungen oder Panikattacken.
„Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung noch verstärkt, weil die Schüler mehr Zeit zu Hause verbringen und noch mehr Möglichkeiten haben, online zu sein“, erklärt Yvonne Petrich. „Dazu kommt, dass der Ausgleich durch Freunde, Sport oder Freizeitaktivitäten fehlt. Das frustriert viele Kinder.“
Viele Eltern hätten auch Angst vor Ansteckung und unterbinden Kontakte. Oder die Kinder sagten selbst: „Wenn ich Corona kriege, stirbt meine Mutter!“
Yvonne hält dagegen und fordert auf: „Geht raus mit nur einem Freund, spielt Fußball oder etwas anderes, aber sitzt nicht ständig vor der Playstation! Wer draußen beim Fußball die meisten Tore schießt, kriegt morgen was Schönes von mir.“ Damit will sie die Schüler motivieren, sich mehr zu bewegen, um den Frust loszuwerden, wieder ein wenig Spaß und Normalität in den Alltag zu bringen.
Seit zwei Jahren leitet sie die Fußball-Abteilung der Hausbruch-Neugrabener Turnervereinigung. Kicken ist ihr Leben, als Jugendliche war sie Leichtathletin. Sie weiß aus Erfahrung, wie wichtig Sport gerade für Kinder ist.
Zudem kümmert sie sich jetzt noch intensiver um ihre Schüler, und das empfiehlt sie auch allen Eltern. „Schauen Sie genau hin, was ihre Tochter oder ihren Sohn bedrückt!“
Eltern sollten hellhörig werden, wenn ihr Kind nicht mehr zur Schule gehen möchte, Erkrankungen vortäuscht, plötzlich zu stottern beginnt oder sich von Eltern und Freunden zurückzieht.
Eltern verunsichern zusätzlich
Doch anstatt Halt und Sicherheit zu vermitteln, indem sie „wissen, wo es langgeht“, sind Erwachsene jetzt häufig selbst ängstlich. Das ist fatal für den Nachwuchs. Unsicherheit ist ein Nährboden für Angsterkrankungen und Depressionen – auch bei Kindern. Die Furcht der Eltern überträgt sich.
„Gut sind Dinge, die Spaß machen. Mutter und Vater wissen am besten, worüber ihr Kind sich freut“, rät Yvonne. „Außerdem sind ein geregelter Tagesablauf und feste Strukturen wichtig. Sie geben Kindern Sicherheit. Eltern sollten sich Zeit nehmen, mit ihrem Nachwuchs über den Schulalltag zu sprechen und auch überprüfen, was ihr Kind im Internet anklickt. Sind es sachliche Quellen oder Fake News, die zusätzlich belasten?“
Immer mehr Mobbingopfer und Eltern von betroffenen Schülern und Schülerinnen wenden sich an Yvonne, die selbst Mutter von fünf Kindern ist. Dann lässt sie sich berichten und überlegt gemeinsam mit Eltern und Kind, wie der Konflikt am besten zu lösen ist. „Nicht jeder blöde Spruch ist gleich Mobbing“, sagt sie. Doch wo endet die Hänselei und wo fängt Mobbing an?
Mobbing unterscheidet sich von „normalen“ Konflikten und Streitereien dadurch, dass es gezielt, systematisch und über einen längeren Zeitraum betrieben wird, mit der Absicht, eine bestimmte Person auszugrenzen bzw. zu vertreiben.
Früher endete das Stänkern mit der Pausenglocke
Meist geht es mit einem blöden Spruch auf dem Pausenhof los. „Früher war das Piesacken meist mit dem Klingeln der Glocke beendet“, erklärt Yvonne. „Doch heute kann man dem Cybermobbing nicht entkommen, schließlich haben wir das Smartphone ständig bei uns und Gemeinheiten werden sofort mit anderen geteilt.“ Schüler stellen kompromittierende Videos in Netz, es hagelt Beleidigungen von vielen Seiten. Das zerstört nicht nur die Seelen der Opfer, sondern kann sie auch in den Tod treiben, wie die Studie zeigt: Im Vergleich zu 2017 denken 20 Prozent mehr Schülerinnen und Schüler über Suizid nach. 30 Prozent mehr betäuben ihre Angstgefühle mit Alkohol oder nehmen Tabletten ein. Wichtig sei, sich frühzeitig Hilfe zu holen, Beweise zu sichern und Mobber zu blockieren.
„Heutzutage müssen häufig beide Elternteile arbeiten“, sagt Yvonne Petrich. „Die Kinder sind darauf angewiesen, in die Betreuung zu gehen, und haben teilweise einen Zehn-Stunden-Tag. Und wenn sie dann zu Hause sind, sind Mutti und Papi kaputt, machen vielleicht noch Essen, aber mehr als Smalltalk gibt es nicht. Anschließend sitzen die Kinder oft vor der Konsole. Doch irgendwann brechen sie aus und suchen sich Freunde, die ihnen Aufmerksamkeit schenken: ,Komm, lass uns den mal ‘n bisschen abziehen oder ärgern!‘ So fängt das an. Oft schon im Grundschulalter.“
Kinder bringen Waffen mit zur Schule
Die Gewaltpädagogin musste sogar schon einmal einen Drittklässler entwaffnen und ihm ein Messer abnehmen. Sie plädiert dafür, genau hinzusehen. Schüler sollten zu einer Lehrkraft oder einer Aufsichtsperson gehen und Meldung machen. „Das ist kein Petzen!“, betont die 39-Jährige. „Im Gegenteil: Der Schüler schützt sich und andere.“ So sei das Opfer auch nicht allein den Repressalien ausgesetzt, denn viele Betroffene schämten sich und könnten diesen Schritt nicht selbst tun.
Bald wird Yvonne Petrich mit einer befreundeten Polizistin zusammen als Anti-Mobbing-Trainerin in Schulklassen gehen, um zu zeigen, wie man sich gegen Mobbing wehrt.
Zu sagen „Wehr dich, wenn dich jemand ärgert!“ reicht nämlich nicht. Wer selbstbewusst und schlagfertig reagiert, kann weitere Stänkereien unterbinden.
Ihre Themen: Gewaltprävention, Mobbing und auch sexualisierte Gewalt. „Ich genieße das Vertrauen von vielen Kindern. Sie erzählen mir gewisse Dinge, ich frage dann am nächsten Tag nach und bleibe so auf dem Laufenden“, sagt Yvonne, die auch Schulbegleiterin für Autisten und ADHS-Kinder (Zappelphilipp-Syndrom) ist. „Ich bin schließlich meldepflichtig im Fall der Fälle. Ich habe auch schon ein paar Mal das Jugendamt verständigen müssen. Wenn Kinder in der Schule anfangen, andere zu schlagen oder mit Feuer zu spielen und ein Aufmerksamkeitsproblem haben, muss man einschreiten!“