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Urteil gegen Jungen Als der zehnjährige Joseph seinen Nazi-Vater erschoss

Joseph sollte kämpfen lernen, gehorchen, hassen. Der Junge aus Kalifornien tat dies umgeben von Drogen, Alkohol und Neonazis. Dann erschoss er seinen Vater - und muss für sieben Jahre ins Gefängnis.
Von Frauke Hunfeld, Riverside

In den frühen Morgenstunden des 1. Mai 2011 schlich Joseph Hall, zehn Jahre, aus seinem Kinderzimmer barfuß die Treppe ins Wohnzimmer hinab. Sein Vater Jeff, Führer der südkalifornischen Abteilung der Neonazi-Bewegung National Socialist Movement, schlief auf der Couch, unter einer Fahne mit schwarzem Hakenkreuz auf weißem Grund. Joseph hielt seinem Vater die geladene Magnum an den Kopf, direkt unter das Ohr. Er atmete ein und tief aus, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Dann drückte er ab.

Am Abend davor hatten sich die Neonazis von Südkalifornien wie üblich im Garten des Hauses in Riverside, rund eine Stunde östlich von Los Angeles, versammelt. Sie hatten getrunken, sie hatten gegrillt, sie hatten über die Drecksmexikaner geschimpft, die ihnen die Arbeit und die Frauen und die Ehre nehmen. Und dass Amerika den Weißen gehört und nur ihnen. Jeff Hall las aus Hitlers "Mein Kampf". Joseph saß still dabei, dann schenkte sein Vater ihm, dem ältesten von fünf Kindern, einen Gürtel mit SS-Schnalle.

Joseph fragte, ob sein Vater richtig tot sei

Der Morgen war immer noch kalt, als die Polizei die Magnum unter Josephs Bett hervorholte und den Jungen ins Auto lud. Jeffs zweite Frau Krista legte ihm seine bunte Kinderdecke um die Schultern. Josephs kleine Schwester Rose* weinte und rief: Du hast gesagt, du willst ihm nur in den Magen schießen. Joseph Hall plapperte wie ein Wasserfall, als er mit den Polizisten aufs Revier fuhr.

Er fragte, ob sein Vater richtig tot ist, und er fragte, ob es wirklich stimmt, dass man nur ein Leben hat. Er fragte, wo die Kugel abgeblieben ist, und dass er gar nicht gesehen hat, wie sie wieder rauskommt aus dem Kopf, obwohl sie doch eigentlich durchgegangen sein müsste. Er sagte, dass er jetzt einen anderen Vater bekommen wird und dass sich sein Leben ändern wird und dass er hofft, dass eine Menge Leute zur Beerdigung kommen. Und dass er seinen Vater vermisst.

Er wollte dieses Vater-Sohn-Ding irgendwie beenden

Später kauften die Polizisten ihm Pommes und Hamburger, er hatte seine Schlafdecke immer noch auf dem Schoß wie ein Kuscheltier, und sie fragten ihn, warum er seinen Vater erschossen habe. Joseph sagte, dass er ein Held sein wollte und seine Familie beschützen musste, und dass sein Vater gedroht hatte, das Haus niederzubrennen, während sie schliefen. Und dass er schon länger darüber nachgedacht hatte, dass er dieses Vater-Sohn-Ding irgendwie beenden muss.

Ein Jahr lang stand der Junge Joseph Hall aus Riverside vor einem kalifornischen Jugendgericht. Das heißt, eigentlich saß er und rutschte dabei immer tiefer in seinen Stuhl, und manchmal schlief er, oder er starrte auf seine Fingernägel. Manchmal blickte er auch freundlich in die Runde und freute sich über all die Leute, die seinetwegen hier sind.

Sieben Jahre muss Joseph in Gefängnis, vielleicht sogar zehn

Das Gericht hatte ihn bereits schuldig gesprochen, wegen Mordes zweiten Grades. Nun ist Joseph 13 Jahre alt und wird die nächsten sieben Jahre im Gefängnis verbringen müssen. Mindestens. So hat es die Richterin verfügt, die in dem Jungen eine Gefahr für die Öffentlichkeit sieht. Wegen seiner Gewalttätigkeit. Joseph ist einer der jüngsten jemals in den USA verurteilten Mörder. Die Verteidigung forderte eine Therapie in einer geschlossenen Heilanstalt, damit Joseph endlich die Hilfe bekommt, die er braucht. Vergeblich.

Wann fängt eine Geschichte an? Wo soll man beginnen, sie zu erzählen? Mit Josephs Geburt? Schon Monate davor? Oder muss man noch viel weiter zurückgehen? Und wenn ein Zehnjähriger zum Mörder wird, wer oder was hat ihn dazu gemacht?

Chronik einer erwartbaren Katastrophe

Josephs Geschichte ist die Chronik einer erwartbaren Katastrophe. Die Akten der Kinderschutzbehörde, mit deren Hilfe das Leben des Jungen vor Gericht rekonstruiert wird, sind gut geführt und detailreich und lassen keine Fragen offen. Bis auf eine: Warum hat niemand etwas gemacht?

Josephs leibliche Mutter ist drogenabhängig und raucht Heroin, auch während der Schwangerschaft. Schon drei Monate nach seiner Geburt, als Jeff und Josephs Mutter den Säugling wegen einer Augenentzündung ins Krankenhaus bringen und sich dort auf der Station eine Schlägerei liefern, wird die Kinderschutzbehörde auf ihn aufmerksam. Man prüft den Fall, aber weil Joseph nichts abbekommen hat, behalten die Eltern das Sorgerecht. Ein gutes Jahr später wird seine kleine Schwester Rose geboren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Joseph erzählt seinem Vater, dass der neue Freund seiner Mutter ihn "untenrum" anfasst - es geschieht nichts.

Die Akte beim Kinderschutz wird dicker

Immer wieder besucht der Kinderschutz die Familie. Prüft, wägt ab und befindet immer wieder, dass die Situation gerade noch so erträglich ist. Die Kinderschützer kommen wegen Vernachlässigung, Mangelernährung, wegen Drogen oder weil Joseph mit zwei Jahren aufgegriffen wird, als er in den frühen Morgenstunden allein durch die Stadt geistert. Die Eltern trennen sich, streiten sich um das Sorgerecht. Josephs Mutter hat einen neuen Freund und bekommt Zwillinge - die Akte beim Kinderschutz wird dicker. Als er drei ist, erzählt Joseph seinem Vater, dass der neue Freund ihn "untenrum" anfasst und seine kleine Schwester auch.

Aber es kann nichts bewiesen werden. Kurze Zeit darauf finden die Sozialarbeiter den Dreijährigen mit blauen Flecken und geschwollener Lippe und seine zweijährige Schwester mit trägerlosem Minikleid, Nagellack und Make-up. Bei einer Besichtigung des Hauses werden zerbrochene Fenster, Ungeziefer, Müllberge und verschmutzte Windeln festgestellt. Jeff Hall bekommt das volle Sorgerecht, die Mutter darf die Kinder nur ab und zu sehen.

Er wird ein dünner Erstklässler, den niemand bändigen kann

Als Joseph vier ist, erzählt er dem Vater, dass der Freund der Mutter seinen Penis in Josephs Mund gesteckt hat und seine Mutter seinen Penis angefasst hat. Zu einer weiteren Untersuchung kommt es nicht, denn als der Kinderschutz die Mutter aufsuchen will, verschwindet sie für die nächsten sechs Jahre aus der Stadt und aus dem Leben ihrer Kinder.

Joseph wird ein kleiner, dünner Erstklässler mit blasser Haut und blondem Haar, den niemand bändigen kann. Er schlägt Mitschüler und Lehrer, er geht über Tische und Bänke, er tritt und beißt um sich. Weder mit Verständnis noch mit Härte, weder mit Strafen noch mit einem Sozialarbeiter an seiner Seite ist Joseph dazu zu bewegen, sich mit der Schule zu arrangieren und in die Gemeinschaft einzufügen.

Joseph hat ständig blaue Flecken. Es passiert: nichts

Joseph ist wie ein in die Enge getriebenes wildes Tier. Niemand kann sich ihm nähern. Er rechnet stets mit dem Schlimmsten und kämpft gegen alles, als ginge es um Leben und Tod. Er wirft mit Gegenständen nach den Lehrern, bedroht die Mitschüler, fliegt von der Schule, kommt in die nächste, fliegt wieder und so fort. Lehrer bemerken, dass der Junge oft mit blauen Flecken in die Schule kommt, aber bevor man sich entschließt, etwas zu unternehmen, ist er schon wieder fort.

Einmal, als er übel zugerichtet in der Schule aufkreuzt, erzählt er einer Lehrerin, er sei zu Hause an Händen und Füßen gefesselt und dann die Treppe hinuntergestoßen worden. Es passiert: nichts. In den Akten der Kinderschutzbehörde steht der Hinweis, dass Jeff Hall angefangen hat, exzessiv zu trinken. Bei einem Hausbesuch finden die Leute von der Behörde eine explodierte Whiskeydestille in der Küche, aber sie kommen irgendwie zu dem Schluss, dass für die fünf Kinder keine Gefahr besteht. All das ist säuberlich dokumentiert. Geschehen ist nichts.

Jagd auf illegale Einwanderer zusammen mit den Sohn

Jahre zuvor hatte der arbeitslose Klempner Jeff Hall sich den Neonazis angeschlossen. Er steigt schnell auf. Während andere ihren Beitrag heimlich bezahlen und zu Demonstrationen nicht erscheinen, sieht man Jeff Hall bei Anti-Obama-Demonstrationen in SS-Uniform die Hakenkreuzfahne schwenken und mexikanische Tagelöhner mit Megafon beschimpfen. Es ist auch seine Idee, nachts mit den Gesinnungsgenossen an der mexikanisch-amerikanischen Grenze Jagd auf illegale Einwanderer zu machen. Joseph nimmt er manchmal mit. Er bringt seinem Sohn bei, wie man Infrarot-Fernrohre benutzt, mit denen man auch in der Nacht sein Ziel erkennt.

Bevor Joseph zehn Jahre alt wird, ist er von neun Schulen geflogen, und da es so nicht weitergehen kann, hält man es für eine gute Idee, dass sein arbeitsloser Neonazi- Vater und dessen neue Frau Krista ihn zu Hause unterrichten. Denn Jeff Hall ist der Einzige, der noch mit Joseph fertig wird. Ein paar Monate später erschießt Joseph seinen Vater.

Muss man die Öffentlichkeit vor Joseph schützen?

Staatsanwalt Michael Soccio, der die Anklage gegen den Jungen vertritt, ist kein harter Hund. Er ist schon lange im Jugendstrafrecht tätig, davor war er im Bereich Mord und Totschlag, und es gibt fast nichts, was er nicht gesehen hat. Er sagt, dass er Joseph mag, und dass er viel Zeit mit ihm verbracht hat in den letzten Monaten. Dass Joseph sehr freundlich sein kann, sanft, und dass er oft sehr, sehr traurig ist. Aber dass er eben auch ein gefährliches Kind ist, mit extremen Gefühlen und keinerlei Selbstkontrolle. Dass man die Öffentlichkeit vor ihm schützen muss.

Soccio sitzt in seinem Büro in einem Nebengebäude des Gerichts mit Blick über die Stadt. Von hier oben sieht Riverside wirklich schön aus, auch wenn der Fluss, der dem Ort seinen Namen gab, schon lange ausgetrocknet ist und mit ihm die Orangenplantagen, für die Riverside berühmt war und von denen die Menschen einst lebten. Heute ist Riverside vor allem bekannt für seine Luftverschmutzung und für seine Kriminalität. Viele sind aus der Metropole hergezogen, um den hohen Grundstückspreisen in Los Angeles zu entgehen und der Gangkriminalität, sagt Soccio, aber die Gangs kamen einfach hinterher, und die schlechte Luft stammt ebenfalls aus L. A.

Wie kann man Joseph helfen?

Soccio glaubt nicht, dass die Nazigesinnung des Vaters irgendetwas mit der Tat zu tun hat. Der Junge war schon gewalttätig, bevor sein Vater Nazi wurde. Er sagt: Dass Joseph ein hartes Leben hatte, ist unstrittig, aber wir können ihn trotzdem nicht mit einem Mord davonkommen lassen.

Ob es nicht ein Risiko ist, diesen labilen Jungen an einen Ort zu bringen, wo er umgeben ist von Gewalttätern und Mördern? Ja, aber er ist einer von ihnen, sagt Soccio, und: Das Einzige, was ihn von allen anderen Mördern unterscheidet, ist sein Alter. Joseph war immer Gewalt ausgesetzt. Auch Soccio weiß, dass Joseph Hilfe braucht. Er wird wieder rauskommen, so oder so, sagt Soccio, aber mein Job als Staatsanwalt ist es, dafür zu sorgen, dass er niemandem schadet, während er Hilfe bekommt. Die Leute im Gefängnis haben ihm versichert, dass sie in der Lage sind, Joseph zu helfen. Glaubt er das selbst? Soccio blickt aus dem Fenster und sagt: Ich habe darauf keine Antwort.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wurde Josephs kleine Schwester von ihrem Vater missbraucht? Sollte das so sein, wäre die Verteidigung des Jungen noch schwerer

Josephs Verteidiger hat das System satt

Matt Hardy war eigentlich schon auf dem Weg in die Rente, als er Josephs Verteidigung übernahm. Na gut, sagte er, als man ihn darum bat. Ein paar Monate noch, aber dann wollte er sich endgültig der Familie widmen. Das ist jetzt zwei Jahre her. Hardy stellte auf eigene Faust Ermittlungen an über Josephs Leben und die Umstände der Tat. Und was er fand, zog ihn immer tiefer in den Fall hinein. Hardy sagt, die Neonazi-Aktivitäten des Vaters sind nur ein Tropfen in dem Ozean von Gewalt und Hass, dem Joseph ausgesetzt war. Er sagt: Gewalt und Hass sind alles, was dieses Kind jemals kennengelernt hat. Es gab keinen Lehrer, der ihm half, es gab keinen Platz, wo Gewalt keine Rolle spielte. Und die ganzen Besuche der Sozialarbeiter haben mehr Schaden angerichtet, als wenn gar nicht erst jemand gekommen wäre. Für ein Kind wie Joseph, sagt Hardy, gab es daraus nur einen Schluss: dass niemand ihm helfen würde, wenn er es nicht selbst täte. Und der einzige Weg, den Joseph kannte, um Probleme zu lösen, war Gewalt.

Hardy kämpft jetzt um Josephs Zukunft und darum, dass der Junge endlich das Leben und die Hilfe bekommt, die ihm zusteht. Für ihn ist der Fall Joseph mehr als ein Einzelschicksal. Er kämpft gegen die Krise der amerikanischen Seele, wie er es nennt, die Verherrlichung von Gewalt. Und er will diesen ewigen Kreislauf stoppen - und sei es nur dieses eine Mal. Hardy war 23 Jahre Ankläger, vor allem in Fällen von Kindesmisshandlung und Missbrauch, bevor er auf die andere Seite wechselte. Er sagt: Ich habe als Ankläger all die Opfer gesehen, und dann später als Verteidiger musste ich feststellen: Das sind dieselben Menschen. Es sind dieselben Menschen, die erst als Kinder Opfer waren und dann Täter wurden.

Joseph, sei ein Mann und beschütze deine Familie

In einem Verhör hat Joseph gesagt, dass er nicht ganz allein auf die Idee kam, dass es das Beste ist, wenn sein Vater stirbt. Es soll einen Streit gegeben haben, und im Raum steht, dass Jeff seine zweite Frau Krista verlassen wollte wegen einer anderen. Und dass Krista Joseph die Waffe gegeben hat und gesagt hat: Joseph, sei ein Mann und tu, was du tun musst. Beschütze deine Familie.

Wenn man mit Leuten spricht, die sich schon lange mit diesem Fall beschäftigen, sagen sie einem, dass sie glauben, dass Josephs kleine Schwester Rose von ihrem Vater möglicherweise missbraucht wurde. Diesen Hinweisen wurde nicht nachgegangen. Nicht von der Staatsanwaltschaft, für die das Mädchen Rose eine schwierige Zeugin ist, weil sie alles tun und sagen würde, um ihren Bruder zu schützen. Und von der Verteidigung nicht, weil es Joseph nicht helfen würde, sondern womöglich sogar schaden, wenn herauskäme, dass Joseph den Mord geplant hatte, um seine Schwester zu schützen.

Was für ein sanftes Kind Vater Jeff doch war

Josephs Oma Joanne, eine pensionierte Lehrerin, hat müde Augen an diesem Tag in Coco's Family Restaurant gleich um die Ecke der geschlossenen Jugendanstalt. Manchmal gönnt sie sich hier nach den Besuchen bei ihrem Enkelsohn einen Kaffee. Sie ist die Einzige, die ihn besucht. Um den Hals trägt sie ein Amulett mit dem Bild ihres geliebten Sohnes Jeff. Sie ist die Mutter des Opfers, sie ist die Großmutter des Täters. Sie beherbergt jetzt Krista und die Enkelkinder in ihrem Haus in San Diego, wo sie nach der Tat hingezogen sind. Alle leben von ihrer Rente. Sie hat allen Grund, müde zu sein. Sie spricht über Jeff wie über einen Helden: was für ein sanftes, treues Kind er war.

Wie nahe sie sich standen. Was für ein fantastischer junger Mann er wurde. Sie mochte sein Engagement bei den Neonazis nicht, aber sie war ein paarmal mit beim Grillen, und das waren alles korrekte junge Menschen, sagt sie. Davon abgesehen war Jeff auf keinen Fall ein Rassist. Auch von häuslicher Gewalt will sie nie etwas mitbekommen haben. Jeff ist ein guter Vater gewesen, sagt sie. Der Einzige, der Joseph nicht aufgab. Immer um die Kinder besorgt, kein Spiel war ihm zu viel, kein Gang zu weit, um Joseph zu helfen. Sie erzählt, dass Jeff Wochen vor der Tat Josephs Ritalin absetzte, weil der Junge immer höher dosiert werden musste und deswegen immer weniger aß. Sie sagt, er hat ausgesehen wie der Überlebende eines KZs, und deswegen entschied Jeff, die Medikamente wegzulassen. Vielleicht war es das, sagt sie. Und es klingt irgendwie hoffnungsvoll.

Vielleicht lassen sich wenigstens die ganz Kleinen retten

Es ist schwer zu sagen, was in ihr vorgeht. Der Verteidiger sagt, sie weiß alles. Sie war immer im Gericht. Sie hat die Zeugen gehört, sie kennt die Kinderschutz-Akten. Sie weiß, was ihr Sohn getan hat. Sie ahnt, was ihre Schwiegertochter getan hat. Sie sieht nur, was sie sehen will. Vielleicht muss man sich irgendwann so entscheiden, vielleicht will sie wenigstens die drei kleinsten Enkel retten. Vielleicht fragt sie sich auch, was sie selbst mit all dem zu tun hat. Wie kann man sagen, wo etwas angefangen hat? Ist am Ende sie mitschuldig, weil sie sich Jeffs Vater ausgesucht hat, der sie und das Kind verprügelt hat? Und sie ihn nicht schützen konnte, weder vor den Schlägen noch davor, zu werden wie sein eigener Vater? Verzeiht sie ihm deshalb alles? Und trägt sein Bild um ihren Hals?

Kury, 24, ebenfalls Mitglied der Neonazis, wohnt jetzt mit einem Freund in einem kleinen Küstenstädtchen unweit von Riverside. Kury hat ein paar Monate bei den Halls gelebt, mit Jeff, Krista und den Kindern, und er ist ihnen zur Hand gegangen. Für Kury war Jeff der Vater, den er selbst nie hatte. Er hat sich das gleiche Tattoo wie Jeff auf den dünnen Arm stechen lassen und Tränen in den Augen, wenn er von ihm spricht. Er sagt: Jeff hat mir beigebracht, was richtig und falsch ist.

Jeff war ein guter Vater für Joseph und die Kinder

Jeff hat mich immer angespornt, etwas aus meinem Leben zu machen. Jeff war ein guter Vater für Joseph und die Kinder. Joseph hatte seine Ausraster, aber Jeff wusste damit umzugehen. Jeff hatte seine Methoden, aber Gewalt hat Kury nie gesehen. Jeff kümmerte sich um seinen Sohn, sagt er, und sein Sohn bewunderte ihn. Warum der kleine Joseph seinen Vater dann erschossen hat, weiß Kury auch nicht.

Das Mädchen Rose wurde nach Jeff Halls Tod ihrer leiblichen Mutter zurückgegeben. Sie lebt jetzt irgendwo im Bundesstaat Washington, Tausende Meilen entfernt von Riverside. Man weiß nicht, wie es ihr dort ergeht, aus den Akten des Kinderschutzes von Kalifornien ist sie jedenfalls verschwunden. Aber man weiß, dass sie Joseph Briefe schreibt und dass er sehr an ihr hängt. Gemeinsam erlittenes Leid ist unter Kindern oft ein Band, das niemals zerreißt. Und wahrscheinlich sind Rose und Joseph die Einzigen, die wirklich wissen, warum Joseph keinen anderen Ausweg sah.

Er wird als Vergewaltiger und Serienkiller wieder rauskommen

Joseph ist 13 Jahre alt. Er ist ein bisschen gewachsen, aber immer noch wahnsinnig dünn. Sein Verteidiger hoffte auf die Therapie. Der Staatsanwalt forderte Gefängnis bis zu zehn Jahre. Sieben sind es geworden, aber es könnten auch zehn werden. Es hängt davon ab, wie sich Joseph im Gefängnis macht. Matt Hardy sagt: Er wird das Gefängnis nicht überleben. Ein schmaler, weißer, traumatisierter Junge, der schon im normalen Leben nicht zurechtkommt, in einem Gefängnis, in dem Gewalt, Vergewaltigung, Drogen und Gangs regieren. Und wenn er überlebt, sagt Hardy, dann wird er als Vergewaltiger oder Serienkiller herauskommen. Die Jugendknäste sind kein Ort, um zu heilen. Sie sind die Hölle, die Teufel entlässt.

Ich bin so müde, sagt Hardy, ich habe dieses System so satt. Solange es so aussieht, als würde man hart gegen das Böse und das Verbrechen durchgreifen, sind alle zufrieden.

Joseph geht es gut in der geschlossenen Jugendanstalt, in der er die Untersuchungshaft verbringt, wahrscheinlich so gut wie noch nie in seinem Leben. Wenn er groß ist, möchte er Polizist werden, sagt Joseph, denn die Polizisten haben ihn gerettet und an diesen Ort gebracht, den andere einen Knast nennen. Am Anfang hatte man nicht mal Schuhe für ihn, Delinquenten mit so kleinen Füßen sind eigentlich nicht eingeplant.

Was etwas Zuwendung, Struktur und Regeln ausmachen

Es gibt einen mexikanischen Wärter, der ein bisschen auf ihn aufpasst. Er scherzt manchmal mit ihm, er hat ihm ein paar T-Shirts geschenkt, und wenn Joseph auf dem Sportplatz rennt, nimmt der Wärter die Zeit. In der Schule hat Joseph ein Jahr aufgeholt. Er liest jetzt gut, sein Schreiben ist immer noch mäßig. Seine Oma bekommt unbeholfene Briefe, in denen er fragt, ob er bei ihr wohnen darf, wenn das alles vorbei ist, und wie es den Kleinen geht. Eigentlich kann man hier ganz gut sehen, was ein bisschen Zuwendung, regelmäßiges Essen, Struktur und berechenbare Regeln bei einem Jungen wie Joseph ausrichten könnten. Von Liebe soll gar nicht die Rede sein.

Liebe Leser, dieser Text ist Ende August im stern erschienen. Zu diesem Zeitpunkt war Joseph zwar schon schuldig gesprochen, allerdings stand das Strafmaß noch nicht fest. Dies wurde nun verkündet. Wir haben den Text entsprechend aktualisiert.

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