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Brennpunkt Ägäis Überfüllte Lager, katastrophale Zustände: Die EU hat ein neues Flüchtlingsproblem

Flüchtlingskinder an einem Zaun im Lager Moria
Flüchtlingskinder an einem Zaun im Lager Moria. Dort sind die Zustände so katastrophal, dass kürzlich sogar dessen Leiter aufgegeben hat
© Stringer / AFPBB News / AFP
Die Balkanroute ist dicht, auf dem Mittelmeer drohen wochenlange Irrfahrten. Immer mehr Flüchtlinge wählen deshalb nun die Route über die Ägäis. In den Auffanglagern auf den griechischen Inseln ist die Lage katastrophal. Was ist mit dem EU-Türkei-Deal?

Mal sind es einige Dutzend, mal mehrere Hundert – an den griechischen Inseln im Osten der Ägäis kommen derzeit fast täglich Migranten an. Mit kleinen Booten legen sie an der türkischen Westküste ab und machen sich auf den Weg zu den nahe gelegenen Inseln. Binnen 24 Stunden erreichten allein bis Donnerstagmorgen 427 Flüchtlinge Rhodos, Lesbos und Samos – und damit die EU, wie die griechische Küstenwache mitteilte.

Insgesamt harren in den für rund 6300 Menschen ausgelegten Registrierlagern auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos bereits mehr als 20.000 Menschen aus. Weitere 4000 Menschen sind in kleineren Lagern und Wohnungen untergebracht. Rund um die sogenannten Hotspots haben sich Satellitencamps gebildet, in denen die Menschen in Zelten oder unter Plastikplanen hausen. Die griechischen Behörden sprechen insgesamt von mehr als 25.000 Menschen, die derzeit auf eine Anerkennung als Asylsuchende warten. 

Die Situation ist teilweise so prekär, dass kürzlich sogar einer der Lagerleiter zurücktrat. "Ich gehe mit erhobenem Kopf... Ich bin müde", sagte Giannis Balbakakis, der Chef des viel kritisierten Registrierlagers von Moria auf der griechischen Insel Lesbos, als er am Mittwoch seinen Rückzug verkündete. In Moria herrschen chaotische Zustände. Nach offiziellen Angaben sind dort mehr als 10.000 Menschen zusammengepfercht. Das Lager hat aber nur eine Aufnahmekapazität für 3000 Migranten. Humanitäre Organisationen kritisieren seit Jahren die Zustände in diesem und anderen Lagern in der Ägäis.    

Steht der EU-Türkei-Deal kurz vor dem Scheitern?

Die aktuelle Situation im Osten Griechenlands wirft die Frage auf, ob einer der Grundpfeiler der europäischen Migrationspolitik gescheitert ist. Ein Pfeiler, den die angehende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerade erst "wichtig und komplex" nannte. War es das mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei? 

Fast dreieinhalb Jahre ist es her, dass dieser Deal mühsam verhandelt wurde. Am 18. März 2016 einigten sich Kanzlerin Angela Merkel, die anderen EU-Staats- und Regierungschefs und der damalige türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu auf das sogenannte EU-Türkei-Abkommen: Unter anderem sollten Migranten, die illegal nach Griechenland übersetzen, künftig in die Türkei zurückgeschickt werden können. Die EU wollte im Gegenzug für jeden abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnehmen. "Wer sich auf diesen gefährlichen Weg begibt, riskiert nicht nur sein Leben, sondern hat eben auch keine Aussicht auf Erfolg", befand Merkel damals.

Das Abkommen zeigte zunächst Wirkung – und beruhigte die Lage auf den griechischen Inseln etwas. Mittlerweile kommen aber wieder deutlich mehr Menschen – seit April steigt die Zahl der ankommenden Migranten drastisch an. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Balkanroute ist dicht. Und wer die gefährliche Alternative wählt, übers Mittelmeer von Nordafrika in Richtung Italien oder Spanien zu flüchten, der riskiert den Ertrinkungstod – oder eine wochenlange Irrfahrt mit einem Rettungsschiff auf der Suche nach einem offenen Hafen.

Griechische Regierung beklagt zu wenig Personal

Alle Versuche, die Situation in der Ägäis zu entschärfen, scheitern bislang. Die im Juli abgelöste linke griechische Regierung von Alexis Tsipras entlastete die Camps zwar punktuell, indem sie einige Tausend Migranten zum Festland brachte. Vor allem die Bearbeitung der Asylanträge und das Abschieben jener, die nicht asylberechtigt sind, dauert nach Ansicht der EU-Kommission aber viel zu lange. Zu wenig Personal, argumentierte die Tsipras-Regierung. Teils reisten Asylbearbeiter, die aus anderen EU-Staaten zur Hilfe gekommen waren, wegen schlechter Arbeitsbedingungen allerdings auch unverrichteter Dinge wieder ab. 

Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
Ein Kind schaut durch einen Zaun im Flüchtlingslager Moria in Mytilini, Griechenland
© Adam Berry / Getty Images

Die neue konservative Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis gelobt Besserung – und behauptet, ihre Vorgänger hätten Flüchtlinge aus ideologischen Gründen nur schweren Herzens zurück in die Türkei geschickt. Nach Angaben der EU-Kommission mussten bis März 2019 nur gut 2400 Syrer zurück in die Türkei. EU-Staaten hätten hingegen bereits mehr als 20.000 schutzbedürftige Syrer direkt aus der Türkei aufgenommen. 

Dort jedoch dreht sich der Wind. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 hat die Türkei mehr als 3,6 Millionen Geflüchtete aus dem Nachbarland aufgenommen, mehr als jedes andere Land der Welt.

Nun erhöht die Regierung den Druck auf die Flüchtlinge, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einst als "Gäste" willkommen geheißen hatte – unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage. Die jahrelang geduldete Praxis etwa, dass Syrer, die nicht in Istanbul registriert sind, dennoch in der Millionenmetropole leben, wird nicht mehr akzeptiert, die betroffenen Flüchtlinge müssen die Stadt verlassen. 

Erdogan droht mit Grenzöffnung

Erdogan versucht, innenpolitisch zu punkten. Jüngst drohte er der EU, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, sollte die Türkei nicht mehr finanzielle Unterstützung erhalten. Einen möglichen Zustrom könne sein Land nicht alleine schultern. Erdogan fühlt sich alleingelassen und hat immer wieder beklagt, Hilfsgelder würden nur schleppend ausgezahlt. Ein Angriff auf die EU in Sachen Flüchtlinge kommt beim heimischen Publikum an. 

Tatsächlich könnte der Türkei ein neuer Flüchtlingsandrang drohen. In den vergangenen Wochen eskalierten die Kämpfe um Syriens letztes großes Rebellengebiet Idlib, das an die Türkei grenzt. Syrische Regierungstruppen rückten gegen die Rebellen vor. In dem Gebiet leben rund drei Millionen Flüchtlinge. Sollten die Truppen von Syriens Präsident Baschar al-Assad weitere Gebiete einnehmen, könnten die Menschen versuchen, in die Türkei zu kommen - und von dort in die EU. Schon vor Tagen demonstrierten Syrer an der Grenze und verlangten von der Türkei, diese zu öffnen. Statt neue Flüchtlinge aufzunehmen, will Erdogan sie in einer sogenannten Sicherheitszone in Nordsyrien ansiedeln. Mit den USA verhandelt er gerade über die Einrichtung einer solchen Zone. 

Drohungen aus Ankara, überfüllte Lager in Griechenland, kaum Abschiebungen in die Türkei

Ganz allein lässt die EU die türkische Regierung nicht. 6 Milliarden Euro sagte die Staatengemeinschaft der Regierung in Ankara für die Jahre 2016 bis 2019 für die Versorgung von Flüchtlingen zu. Davon seien bereits 3,5 Milliarden Euro vertraglich vergeben und 2,4 Milliarden ausgezahlt worden, teilte die EU-Kommission jüngst mit. Ausgezahlt wurden davon nach Angaben der Behörde 2,4 Milliarden. Mehr als 80 Projekte seien angelaufen. 

Drohungen aus Ankara, überfüllte Lager auf griechischen Inseln, kaum Abschiebungen in die Türkei. Platzt das Abkommen zwischen der EU und der Türkei also bald? Die EU-Kommission beantwortet diese Fragen gewohnt nüchtern: "Wir glauben daran, dass wir die Arbeit mit unseren türkischen Partnern in gutem Vertrauen fortsetzen können", heißt es auf Anfrage. Dennoch nehme man die hohe Zahl ankommender Migranten auf Lesbos mit Sorge zur Kenntnis. Zugleich stellt die Brüsseler Behörde klar: Im Vergleich zur Zeit vor dem EU-Türkei-Abkommen handele es sich nur um einen Bruchteil. 

"Die Situation ist noch nicht außer Kontrolle"

Auf diese Zahlen verweist auch Migrationsforscher Gerald Knaus, der das EU-Türkei-Abkommen 2016 mitentwickelt hat. Ja, im August seien mehr Menschen gekommen als in jedem Monat seit März 2016. Doch die Gesamtzahl 2019 sei bislang noch immer halb so hoch wie allein im Februar 2016. Zugleich handele es sich nur um ein vernachlässigbare Größe, wenn man bedenke, dass in der Türkei rund 3,6 Millionen Syrer Schutz bekämen. 

Die Vorstellung, die Türkei habe ihre Grenzen bereits geöffnet, sei absurd, sagt Knaus. "Wir haben es mit einem Wachstum zu tun, und das ist ein ernstes Zeichen. Aber die Situation ist noch nicht außer Kontrolle." Noch gebe es die Chance, das Abkommen zu retten. Dazu müsse es dringend einen Plan zur Unterstützung der griechischen Behörden geben. 

Asylanträge müssten innerhalb weniger Wochen bearbeitet und Migranten dann zeitnah zurück in die Türkei geschickt werden, sagte Knaus. Dabei sollten die griechischen Behörden Hilfe etwa von erfahrenen deutschen, französischen oder niederländischen Asylbearbeitern bekommen. Mit Blick auf das Abkommen sagte Knaus weiter: "Wenn es zusammenbricht, dann wegen des Scheiterns auf den griechischen Inseln."

mik / Michel Winde, Mirjam Schmitt, Takis Tsafosk DPA

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