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Raumfahrt-Medizin Kleine Herzen, kleinere Hirne: Was wir für einen Aufenthalt im All in Kauf nehmen müssen

Weltraummedizinerin Bergita Ganse
Bergita Ganse völlig losgelöst - die Weltraum-Medizinerin weiß, wie sehr unser Organismus unter Langzeitaufenthalten im Weltraum leidet.
© NASA/B. Ganse
Die Raumfahrer wollen über den Mond zum Mars. Doch was passiert mit unserem Körper in der Schwerelosigkeit? Weltraummedizinerin Bergita Ganse hat da leider keine guten Nachrichten.

Frau Ganse, wissen Experten, was auf die Astronauten bei einer Marsmission körperlich zukommt?
Bergita Ganse: Wir Weltraummediziner wissen das, doch der Raumfahrt-Community ist vieles nicht bewusst. Wir erwarten jedenfalls erhebliche medizinische Schwierigkeiten.

Zum Beispiel?
Erst vor Kurzem fiel ein ganz unerwartetes Problem auf: Die Astronauten sehen schlechter. Das liegt aber wahrscheinlich nicht an den Augen selbst – das Gehirn schrumpft offenbar und bleibt auch nach der Rückkehr kleiner. Es kann optische Signale anscheinend weniger gut verarbeiten.

Die Astronauten werden dümmer?
Sie entwickeln kognitive Probleme, die aber im Detail noch nicht bekannt sind. Wenn also die Nasa sagt, eine Marsreise sei machbar, dann antworten wir Mediziner: Bis dahin sind noch viele Studien nötig, auch auf der ISS.

Bergita Ganse

Bergita Ganse ist Fachärztin für Physiologie, Orthopädie und Unfallchirurgie. Zurzeit erforscht sie an der Manchester Metropolitan University, wie Körper auf künstliche Schwerkraft in Raumschiffen reagieren. Ganse arbeitet mit der Nasa, Esa und dem DLR zusammen. Mit ihrem Bruder Urs, einem Astrophysiker, schrieb sie "Das kleine Handbuch für angehende Raumfahrer".

Lassen Sie uns eine fiktive Reise zum Mars beginnen. Nach welchen Kriterien werden die Raumfahrenden ausgewählt?
Grundsätzlich kann fast jeder ins All fliegen. Auch Brillenträger, wenn sich ihre Sehschwäche weglasern lässt. Man muss nicht besonders kräftig oder sportlich sein – wichtiger sind psychologische Faktoren und die soziale Verträglichkeit.

Wie sieht ein gutes Team aus?
Es ist gleichmäßig mit Männern und Frauen besetzt. Wenn Männer unter sich sind, so belegen Studien, neigen sie zu »ungünstigen Verhaltensweisen« – in den Anfangstagen der Raumfahrt flogen meist Kampfpiloten, da kam es schon mal zu Schlägereien im All. Sobald eine Frau im Team ist, verhalten sich Männer deutlich kooperativer.

Sind Frauen körperlich im Nachteil?
Nein, aus medizinischer und psychologischer Sicht spricht absolut nichts gegen Frauen. Im Gegenteil: Die eben genannten kognitiven Probleme haben hauptsächlich Männer. Frauen haben noch einen Vorteil: Sie sind leichter und essen weniger –   Astronautinnen sparen also Gewicht ein.

Warum flog dann noch nie eine deutsche Frau?
Das liegt allein an den Entscheidern bei DLR und Esa. Es gibt genug fähige Frauen in Deutschland, in anderen Ländern wie den USA fliegen Frauen regelmäßig ins All. Ich bin stinksauer, dass wir es als moderne Nation nicht geregelt bekommen, eine Frau ins All zu schicken.

Sagen wir: Der Start unseres Teams ist geglückt. Was erleben die Frauen und Männer zu Beginn in der Schwerelosigkeit?
Zwei Drittel der Astronauten haben Kopfschmerzen, ihnen ist übel, sie müssen plötzlich erbrechen. Sie erleben die "Weltraumkrankheit": Das Gehirn ist überfordert, denn der Gleichgewichtssinn im Innenohr sendet Informationen, die denen des Auges widersprechen. Bis zu vier Tage kann das anhalten – in dieser Zeit sind Weltraumspaziergänge verboten, denn wenn man sich in den Helm übergibt, kann man nichts mehr sehen.

Welche längerfristigen Auswirkungen hat  die Schwerelosigkeit?
Die Raumfahrenden wachsen um mehr als fünf Zentimeter! Die Wirbelsäule wird gerade. Zudem drückt die Schwerkraft die Bandscheiben nicht mehr zusammen – sie ziehen sich mit Wasser voll. Die meisten Astronauten klagen in der ersten Woche über Rückenschmerzen. Dasselbe passiert mit der Wirbelsäule übrigens auf der Erde im Schlaf, weswegen man morgens etwa einen Zentimeter größer ist als abends.

Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Übelkeit – wird die Liste noch länger?
Die Flüssigkeit im Körper verschiebt sich von den Füßen in den Kopf. Die Astronauten haben "bird  legs", dünnere Beine, und "puffy faces", aufgedunsene Gesichter. Dieser "fluid shift" hat aber auch positive Effekte: Wenn man sich das Sprunggelenk verstaucht, schwillt es nicht an, da weniger Flüssigkeit in den Beinen ist.

Ändert sich auch die Wahrnehmung?
Der Geschmackssinn der Raumfahrenden ändert sich, wahrscheinlich wegen der Flüssigkeitsverschiebung: Die Geschmacksknospen schwellen an. Einige der Astronauten schmecken weniger intensiv, sie freuen sich über salzigeres und schärferes Essen. Getränke mit Kohlensäure wiederum sind unangenehm, denn die Blasen verteilen sich im Darm, das schmerzt. Auf der Erde sammelt sich das Gas ja immer oben im Magen – man wird es los, indem man rülpst. Aber das sind die kleineren Probleme, die größeren entstehen erst, wenn man sich wirklich auf den langen Weg zum Mars macht.

Was passiert auf dem Hinflug?
Das Immunsystem gerät außer Kontrolle, denn viele Immunzellen nutzen die Schwerkraft, um sich zu orientieren. Im Raumflug tauchen manchmal Krankheiten auf, die ein Astronaut früher mal hatte, etwa durch die Viren für Windpocken. Die hatte das Immunsystem eigentlich unter Kontrolle, jetzt gewinnen sie wieder die Oberhand.

Was geschieht noch?
Alles, was nicht belastet wird, baut der Körper ab. In den ersten Tagen können Raumfahrende 20 Prozent ihrer Muskelmasse und -kraft verlieren, bei einer längeren Mission viel mehr, schließlich lässt sich in Schwerelosigkeit selbst ein Raumschiffmodul auf dem kleinen Finger balancieren. Erst wenn sie auf einem Planeten landen, spüren sie die Folgen: Nach kleinen Anstrengungen sind sie völlig außer Puste. Auch das Herz schrumpft, weil es weniger stark pumpen muss.

Was lässt sich gegen den Muskelabbau tun?
Auf der Raumstation trainieren die Astronauten intensiv, täglich zweieinhalb Stunden. Zudem nehmen sie Medikamente gegen Osteoporose ein. All das begrenzt den Abbau stark – ein großer Forschungserfolg.

Wie trainiert man seine Muskeln in der  Schwerelosigkeit?
Auf der ISS werden drei Trainingsgeräte benutzt: Für die Ausdauer gibt es ein Laufband – man ist mit Gummizügen befestigt, die einen Richtung Laufband drücken. Dann gibt es ein Fahrrad, man schnallt sich mit Klickpedalen daran fest. Es gibt keinen Sitz, weil man ohnehin nicht sitzen kann. Normales Krafttraining ist nicht möglich, da Hanteln nichts wiegen. Daher gibt es das ARED: ein Gerät mit Unterdruckzylindern, aus denen man Stempel herausziehen muss. Damit lassen sich alle Übungen aus dem Fitnessstudio machen: Kniebeugen, Bankdrücken, Umsetzen, Reißen …

Mars

Solche Maschinen müsste man auch mit zum Mars nehmen?
Ja. Unser Team forscht allerdings an einer Alternative: künstliche Schwerkraft. Man könnte eine Kurzarmzentrifuge mitnehmen und sich darin regelmäßig der Zentrifugalkraft aussetzen, die wie Schwerkraft wirkt. Die Zentrifuge hat einen Durchmesser von etwa sieben Metern – das würde in das Space Launch System passen, die geplante Rakete der Amerikaner.

Wie läuft Ihre Studie ab?
Wir führen Experimente in einer Bettruhestudie von Nasa und Esa durch: Die Probanden liegen 60 Tage lang im Bett, mit Sechs-Grad-Kopftieflage. Stets muss eine Schulter die Matratze berühren, selbst für den Toilettengang dürfen sie nicht aufstehen. Die Muskulatur baut sich ab wie in der Schwerelosigkeit. Wir wollen herausfinden, wie wir die Zentrifuge effektiv nutzen, um den Muskelabbau zu minimieren: Sollen die Probanden 30 Minuten am Stück oder besser sechsmal am Tag fünf Minuten damit fahren? Wir tippen auf Letzteres.

Eine halbe Stunde pro Tag soll ausreichen?
Ja. Im Alltag sitzen wir ja auch die meiste Zeit rum, und nachts liegen wir.

Sagen Sie: Wenn man sich verletzt, schwebt dann das Blut durch das Raumschiff?
Das Blut sammelt sich in großen Tropfen an der Wunde, es fliegt nicht durch die Gegend. In vielen Science-Fiction-Filmen wird das falsch dargestellt.

Alexander Gerst trainiert auf der ISS
Training in 400 Kilometer Höhe über der Erde in der ISS: Esa-Astronaut Alexander Gerst hält sich in Form, registrierte nach seiner Rückkehr, dass sich sein Körper verändert hatte.
© Esa/Nasa

Lassen sich in Schwerelosigkeit Operationen durchführen?
Theoretisch ja, das wurde im Weltraum aber noch nie gemacht. Die Nasa hat entschieden, dass sie die Wahrscheinlichkeit einer Operation auf einer Marsmission für so gering hält, dass sie auf die Ausstattung verzichten will. Jedes Zusatzgewicht erhöht die Kosten. Daher wird man ungefähr nur zwei Kisten medizinisches Equipment mitnehmen. Als Medizinerin würde ich den Raumfahrern allerdings ein größeres Raumschiff mit mehr medizinischem Material wünschen.

Dann verschöbe sich die Marsmission aber weit in die Zukunft.
Die Nasa lässt gerade sehr teure, besonders kleine Geräte entwickeln. Dennoch können die Astronauten wohl nur akute Notfälle behandeln und Zähne ziehen. Hauptsächlich nehmen sie Medikamente mit, und zwar viele. Denn die Strahlung zerstört deren Wirksamkeit: Auf der Rückreise müssten die Raumfahrenden bis zu 20-mal höhere Dosen nehmen als auf dem Hinweg.

In Science-Fiction-Filmen werden die Astronauten eingefroren und erst am Ziel aufgetaut.
Für Kleinstlebewesen ist das möglich, aber vom Hyperschlaf für Menschen ist die Medizin noch ganz weit entfernt. Für den Körper muss die Zeit quasi stoppen – sonst ist der Astronaut nach  dem Aufwachen so unfit wie ein Komapatient.

In unserer fiktiven Reise kommt das Team endlich auf dem Mars an. Was droht ihm dort?
Auf dem Mars ist wie auf der gesamten Reise die Weltraumstrahlung ein großes Problem. Auf der Erde schützen uns die Atmosphäre und das Erdmagnetfeld. Sobald die Astronauten das Erdmagnetfeld verlassen, steigt die Belastung enorm,  die Teilchen sind schwerer und energie reicher.  Darunter sind etwa Eisenkerne, die  können die Chromosomen in unseren Zellen komplett durchschlagen. Gefährlich sind vor allem solare Masseauswürfe, da wirft die Sonne auf einmal große Mengen Strahlung aus. Man plant ein Frühwarnsystem, die Raumfahrenden  müssten in dem  Fall in eine Schutzkammer flüchten, die zum Beispiel durch Wasser abgeschirmt ist. Optimal wäre eigentlich Blei, aber das ist zu schwer für  die Raumfahrt.

Die Astronauten werden also einer enormen Strahlenbelastung ausgesetzt. Nimmt man in Kauf, dass sie später Krebs bekommen?
Ja. Daher hat die Nasa ihre Strategie geändert: Es sollen ältere Menschen zum Mars fliegen, über 50 Jahre alt. Die Raumfahrenden sollen so alt sein, dass sie möglichst natürlich sterben, bevor ihr Krebs auftritt.

Auf dem Mars wollen Menschen vor allem  die Frage klären: Gibt oder gab es dort Leben? Wären diese Organismen gefährlich?
Nach einer Theorie kam das Leben einst vom  Mars auf die Erde. In dem Fall wäre Leben auf dem Mars dem der Erde ähnlich, es hätte die gleiche DNA-Struktur – mögliche Keime könnten uns tatsächlich infizieren. Extraterrestrisches Leben könnte aber auch völlig anders sein, dann wäre eine Infektion unwahrscheinlich. Doch noch wurde kein Leben außerhalb der Erde gefunden.

Schließlich steht die lange Rückreise bevor. Haben die Astronauten nun das Schlimmste hinter sich?
Nein, nun tritt das Third-Quarter-Phänomen auf: Nach der Hälfte der Zeit, im dritten Viertel, droht der psychologische Tiefpunkt. Der Höhepunkt der Reise liegt hinter der Crew, die Spannung fällt ab, die inneren Reserven sind aufgebraucht. Das Essen langweilt, alle Filme sind gesehen. Das Zusammenleben wird schwieriger, Konflikte treten auf.

Woher weiß man das?
Etwa von Antarktisstationen, wo jedes Jahr Menschen überwintern. Hier finden daher auch die psychologischen Studien von Nasa und Esa statt. 2010/2011 gab es zudem eine große Studie in Moskau, "Mars-500", in der sechs Menschen für 520 Tage in einem Container isoliert wurden. Doch obwohl sie darauf speziell vorbereitet wurden, traten Probleme auf. Manche saßen am Ende nur noch herum, haben nicht mehr gesprochen, die anderen nicht mal mehr angeschaut.

Wie werden Astronauten darauf vorbereitet?
Konflikte lassen sich nicht verhindern. Eigenheiten von Menschen, auch kulturelle Unterschiede, die im Alltag nicht stören, werden über die lange Zeit problematisch. Die Crew sollte schon vorher Abenteuer gemeinsam erleben – die Nasa macht mit ihnen Survivaltraining in Höhlen, die russische Weltraumorganisation Roskosmos geht mit ihnen in die Steppe. Die Raumfahrenden werden in konfliktträchtige Situationen gebracht – und sollen lernen, diese zu erkennen und zu managen.

Kosmonaut Juri Malentschenko zurück auf der Erde
Kosmonaut Juri Malentschenko war insgesamt mehr als 800 Tage im All. Nach der Landung im Juni 2016 kommen die Beine nicht gegen die Schwerkraft der Erde an. Raumfahrer müssen im Alter mit Spätfolgen ihrer Aufenthalte in der Schwerelosigkeit leben.
© Bill Ingalls / Nasa / Getty Images

Gut, dass die Reise irgendwann zu Ende geht. Zurück auf der Erde: Haben die Raumfahrer jetzt alles überstanden?
Direkt danach wird es ihnen schlecht gehen. Der US-Amerikaner Scott Kelly war vor Kurzem ein ganzes Jahr auf der ISS. Ihm ging es danach  wesentlich schlechter als nach einer Mission von wenigen Monaten. Nach der Reise zum Mars müssten die Raumfahrenden ein umfangreiches Rehaprogramm absolvieren. Ihr Risiko für Bandscheibenvorfälle etwa ist durch die Mission auf ein Vielfaches gestiegen.

Welche Langzeitschäden drohen?
Wegen des Knochenabbaus werden die Astronauten im Alter früher Osteoporose bekommen: Die Knochendichte ist niedriger und die Knochenstruktur verändert, sie haben im Alter eventuell häufiger Brüche. Auch das Krebsrisiko ist erhöht.

Die Herausforderung besteht also auch darin, den Astronauten nach der Rückkehr ein gutes Leben zu ermöglichen.
Ja, das Ausmaß der Schäden ließe sich eindämmen, vor allem durch umfangreiches Training und Equipment. Doch die Nasa will aus Kostengründen so viel Gewicht sparen wie möglich, notfalls gar auf Kosten der Gesundheit. Sollte das tatsächlich passieren, muss später allen bewusst sein: Man hätte die Raumfahrenden in einem besseren Zustand zurückbringen können, hätte man mehr Geld investiert.

Die Astronauten opfern ihre Gesundheit?
Ja, sie werden Einschränkungen im späteren Leben haben. Darum ist unsere Forschung so wichtig.

Die Fragen stellte Martin Scheufens.

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