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Pandemiebekämpfung Good-bye Zero-Covid? Chinas Strategie ist gescheitert, aber Lockerungen sind derzeit auch keine Lösung

Ein Mann geht durch fast leere Straßen in Peking
China lockert – trotzdem bleiben die Straßen mancherorts menschenleer
© Andy Wong / AP / DPA
Die Regierung in Peking rückt von ihrem Null-Covid-Kurs ab. Die Entscheidung war dringend nötig und trotzdem droht ein Debakel. Denn auf Lockerungen ist China alles andere als vorbereitet.

Ende November herrschte in China Stillstand – trotz großem Aufruhr. Menschen forderten auf den Straßen von Peking und Shanghai ein freies Leben ohne Coronabeschränkungen, ja teilweise ohne den Diktator Xi. Die chinesische Regierung verharrte in einer Schockstarre: Zum einen, weil die Bürger gegen eine Politik aufbegehrten, die sie zuvor drei Jahre lang willig mitgetragen hatten. Zum anderen stiegen die Infektionszahlen wieder an. Selbst China-Experten wagten es nicht vorherzusagen, wie sich die Regierung in Peking verhalten würde.

Eine Woche später präsentiert die Zentralregierung nun einen Zehn-Punkte-Plan für Lockerungen. Für Nadine Godehardt von der Stiftung Wissenschaft und Politik das Signal, dass die chinesische Zero-Covid-Strategie gescheitert ist. "Was nicht bedeutet, dass die Strategie von Beginn an falsch war", räumt die Politikwissenschaftlerin und China-Expertin gegenüber dem stern ein.

Doch nach drei Jahren funktioniert das nicht mehr. "Der Zentralregierung ist jetzt klargeworden, dass die Zero-Covid-Strategie nicht um jeden Preis umgesetzt werden soll, sondern dass es unterschiedliche regionale Situationen gibt und es deshalb Zeit für Lockerungen ist", sagt Genia Kostka, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin. Zuvor schon hatte Peking Lockerungen angekündigt. "Das hat die Lage aber vor allem für Einreisende aus dem Ausland vereinfacht", sagt Kostka. Jetzt betreffen die Lockerungen die chinesischen Bürger direkt.

Infizierte ohne Symptome oder mit milden Krankheitsverläufen können sich zuhause isolieren, müssen also nicht mehr in die vom Staat aufgebauten Quarantänezentren. Nach einer Woche kann man sich mit einem PCR-Test freitesten. Enge Kontaktpersonen müssen sich fünf Tage zuhause isolieren, ehe sie sich freitesten können. Lockdowns beziehen sich künftig nur noch auf Gebäude, Wohneinheiten, Stockwerke oder Haushalte und negative Corona-Tests müssen nur noch in medizinischen Einrichtungen und Schulen vorgezeigt werden.

Chinas Regierung kooperativ – für Bürger, Wirtschaft und Macht

Dass die Proteste aus der vergangenen Woche dazu beigetragen haben, steht außer Frage. Eingeknickt ist die chinesische Regierung aus Sicht von Kostka aber nicht. Sie spricht lieber von "responsive authoritarianism". Der Begriff aus der politischen Fachwelt beschreibt ein Phänomen wonach der gesellschaftliche Veränderungsdruck von der Regierung toleriert wird, um die eigene Legitimität nicht weiter zu bedrohen. Durch die Proteste habe die Zentralregierung verstanden, dass die Menschen nur in Maßen die Corona-Maßnahmen mittragen. "Gleichzeitig wuchs die Angst, dass sich die Proteste ausweiten könnten und es um Themen wie Meinungsfreiheit gehen könnte. Deshalb versucht man, kooperativ zu sein", erklärt Kostka die Lage in der Volksrepublik.

Auch der wirtschaftliche Druck dürfte zu dem politischen Schwenk beigetragen haben. Wegen der strikten Corona-Maßnahmen brach der chinesische Außenhandel im November massiv ein. Das Land importierte fast elf Prozent weniger als im November 2021. Laut Zoll handelt es sich dabei um den stärksten Rückgang seit Mai 2020. Chinas Exporte fielen unterdessen um knapp neun Prozent – die höchsten Einbuße seit Februar 2020. "Mittelfristig ist Chinas Wirtschaft weiter mit einem strukturellen Abschwung konfrontiert", analysiert die Weltbank. Grund hierfür sind nicht nur die langsamen Lockerungen, sondern auch die Inflation und der Ukraine-Krieg.

Lockern, aber zu welchem Preis?

Auch wenn einige chinesischeTestzentren bereits schließen und Restaurants dafür öffnen: Vom Menschenaufkommen und Verkehrsgeschehen, wie man es aus der Zeit vor der Pandemie kannte, ist das Land der Mitte noch weit entfernt. Kostka rechnet zudem damit, dass Peking weiterhin dazu bereit ist, harte Lockdowns durchzusetzen. Denn die Erleichterungen kommen eigentlich zur Unzeit. Seit ein paar Wochen wird China von der größten Infektiosnwelle seit Pandemiebeginn überrollt – auch wenn die absoluten Zahlen im internationalen Vergleich niedrig sind. Die Gesundheitskommission berichtete am Mittwoch von rund 25.000 Neuinfektionen an einem Tag. Die Zahlen sind seit Tagen rückläufig, nachdem Ende November ein Höchststand von rund 40.000 erreicht worden war.

Doch selbst eine geringe Anzahl an schwer erkrankten Corna-Patienten könnte das 1,4 Millionen Seelen große Land überfordern, befürchten Experten. Derzeit sind nur vier Intensivbetten pro 100.000 Menschen frei, sagen die Gesundheitsbehörden. Den Vorsprung, den sich die chinesische Regierung durch ihren strikten Coronakurs zu Beginn der Pandemie erarbeitet hat, blieb aus Sicht Godehardts ungenutzt. "Das Grundproblem Chinas ist mit den Lockerungen längst nicht gelöst", sagt die China-Expertin. Xis Regierung nimmt damit steigende Fallzahlen in Kauf. Und das ausgerechnet in den Wintermonaten, wo die Inzidenzen tendenziell immer steigen.

In einem Beitrag für das Journal "Nature Medicine" warnten Forscher der Sanghai Fudan University bereits vor Monaten, dass mehr als 1,5 Millionen Chinesen sterben könnten, wenn die Corona-Maßnahmen aufgehoben werden und es keine entsprechenden Medikamente gebe. Den Berechnungen zufolge könnte die Zahl der Toten allerdings auf das Niveau der saisonalen Grippe fallen, wenn alle älteren Personen geimpft wären und antivirale Medikamente eingesetzt würden.

Warum keine Impfpflicht?

Doch das ist nicht der Fall. Aus Angst vor Nebenwirkungen wurden Ältere bislang weniger geimpft. Nur 40 Prozent der Menschen über 80 Jahren haben eine Booster-Spritze bekommen. Hinzukommt, dass China bisher nur eigene Impfstoffe zugelassen hat, die dreimal verimpft werden müssen. "Aber offensichtlich scheinen sie nicht besonders gut zu wirken, denn sonst hätte China nicht im Nachgang weiterhin auf strenge Lockdowns und eine Null-Covid-Strategie gesetzt", sagt Timo Ulrichs, Professor an der Akkon Hochschule und Experte für globale Gesundheit, dem stern. Zwar seien am Dienstag weitere chinesische Impfstoffe zugelassen worden, allerdings sei unklar, ob es sich um angepasste Wirkstoffe handelt.

Problematisch ist auch, dass China durch seine Zero-Covid-Strategie zahlreiche Infektionen verhindert hat. Die Bevölkerung ist damit weitestgehend "immunnaiv". "Eine Null-Infektionsstrategie funktioniert nur bei Erregern, die sich komplett zurückdrängen lassen. Aber die immer neuen Varianten des Coronavirus‘ werden ja immer ansteckender, deshalb ist das keine Option mehr", sagt Ulrichs.

Damit bleibt dem Land wohl nur kontrolliertes Lockern. Schleierhaft bleibt dagegen, warum ein Regime, dass seine Bürger in Lockdowns zwingt, keine Impfpflicht einführt. Für die meisten Gesundheitsexperten ist die Impfung immer noch der beste Weg, um weitere Pandemiewellen zu verhindern. Für Godehardt steht deshalb fest: "Jetzt zu öffnen, ohne massiv zu impfen, ist ein gesundheitliches Sozialexperiment." Ohne vorbereitete Lockerungen riskiert Chinas Regierung zwar nicht den nächsten Volksaufstand – aber vielleicht den nächsten Stillstand.

Quellen:CNN, Stiftung Wissenschaft und Politik, "China Daily", "Nature Medicine", mit Material von DPA und AFP

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