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Deutschlandtakt "Irreführend und erschreckend ambitionslos": Bahn-Projekt hat 40 Jahre Verspätung

Dirk Flege
Dirk Flege ist Geschäftsführer des Interessenverbands "Allianz pro Schiene"
© Stephan Röhl
Der Deutschlandtakt sollte die Deutsche Bahn in eine goldene Zukunft führen. Doch ein erster Zielfahrplan bis 2030 könnte gerissen werden – um Jahrzehnte. Denn das Verkehrsministerium unter Volker Wissing hat bis heute keine der 181 Maßnahmen umgesetzt, die dafür nötig wären.

Alle 30 bis 60 Minuten. So oft sollten die Züge mit dem Deutschlandtakt in jede Richtung fahren, mit einem ersten Zielfahrplan bis 2030. Bei diesen Plänen von Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) steht das aktuelle Verkehrsministerium von Volker Wissing (FDP) allerdings ein wenig auf der Bremse. Der für den Schienenverkehr zuständige Staatssekretär Michael Theurer (FDP) sagte zuletzt in einem ZDF-Interview: Der Deutschlandtakt werde "in den nächsten 50 Jahren als Jahrhundertprojekt" umgesetzt. 40 Jahre später als von Scheuer 2018 und 2021 angekündigt.

Die Kritik und, wie bei der Bahn nicht unüblich, die Häme ließen nicht lange auf sich warten. Doch so einfach ist es – wie so oft – nicht. 

Theurer versuchte, ebenfalls via Twitter, die Aussage wieder einzufangen. Der Deutschlandtakt komme wie geplant in Etappen, er werde nicht verschoben: "Das Bundesverkehrsministerium arbeitet vielmehr an einer Beschleunigung des Projekts." Diese Beschleunigung kann Dirk Flege im Gespräch mit dem stern nicht bestätigen. Flege ist Geschäftsführer des Interessenverbands "Allianz pro Schiene". Er hat den Deutschlandtakt mit erarbeitet und ist auch heute im regen Austausch mit dem Bundesverkehrsministerium. Er bezeichnet Theurers Aussagen als "irreführend und erschreckend ambitionslos". Man habe in den vergangenen Wochen und Monaten "immer so getan, als ob der Zielfahrplan 2030 der Kompass für die gesamte Eisenbahn-Politik von Herrn Wissing und seinem Haus ist. Und dieses Zieljahr 40 Jahre nach hinten zu verschieben, das ist schon atemberaubend."

Der Deutschlandtakt wurde unter Führung von Andreas Scheuer geplant

2021 gelobten die Parteien im Koalitionsvertrag: "Wir werden den Masterplan Schienenverkehr weiterentwickeln und zügiger umsetzen, den Schienengüterverkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigern und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppeln". Der Zielfahrplan eines Deutschlandtaktes werde auf diese Ziele ausgerichtet. Eine Ankündigung, die auf Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer zurückgeht.

2018 hatte Scheuer mit dem Deutschlandtakt den großen Wurf nach Schweizer Vorbild geplant. Dafür versammelte er Politik, Unternehmen, Verbände und Gewerkschaften zum "Zukunftsbündnis Schiene". Das erarbeitete einen bundesweiten Taktfahrplan, der das Bahnfahren für alle attraktiver und einfacher gestalten sollte. Im Interview mit der "Welt" versprach Scheuer im selben Jahr: "Der Deutschlandtakt macht das Bahnfahren pünktlicher, schneller und die Anschlüsse direkter und verlässlicher."

Das Zieljahr 2030 stand fest – bisher

Dafür stellte Scheuer 2021 medienwirksam 181 Infrastruktur-Maßnahmen vor, um den öffentlichen Nahverkehr zu modernisieren. Diese gehören zu dem Zielfahrplan für 2030, über den aktuell gestritten wird. Doch bis heute hat es keine einzige dieser Maßnahmen über Planungsstufe zwei von neun hinausgeschafft – es gibt lediglich eine Vorplanung mit Kostenschätzung. "Diese 181 Maßnahmen sind mit einem Finanzbedarf hinterlegt und in den vordringlichen Bedarf des Verkehrswegeplans aufgerückt. Das ist alles ein in sich stimmiges Gesamtkonzept. Nur so funktioniert der Deutschlandtakt", kritisiert Dirk Flege von der "Allianz pro Schiene".

Die gesamte Strategie des Deutschlandtakts sei logischerweise nie abgeschlossen – Schienen oder Bahnbrücken müssen beispielsweise immer mal erneuert werden. Das sagt auch das Bundesverkehrsministerium dem stern: "Richtig ist, dass der Deutschlandtakt ein fortlaufendes Projekt ist, dass stetig weiterentwickelt und an die Modernisierung des Schienennetzes angepasst wird." Doch dass ein konkretes Konzept zur schrittweisen Umsetzung des Zielfahrplans weiter auf die lange Bank geschoben wird, ärgert Dirk Flege: "Weder ein Herr Scheuer, noch ein Herr Wissing, noch sonst jemand von der Leitungsebene des Verkehrsministeriums hat bislang erklärt, warum das Jahr 2030 nur eine Zwischenetappe sein soll und welches Jahr denn nun das wirkliche Zieljahr ist."

Das Verkehrsministerium löst den Koalitionsvertrag nicht ein

Der anberaumte Zeitrahmen bis 2070 trifft auch deshalb auf so viel Hohn und Spott, weil die Ampelkoalition ihre eigenen Klimaziele reißt. Für die Prioritätenverschiebung durch den Krieg in der Ukraine sind die Koalitionäre nicht verantwortlich. Doch wird die Modernisierung des Nahverkehrs und damit auch die Bekämpfung der Klimakrise immer weiter nach hinten gedrängt. Im Falle des Deutschlandstakts eben 40 Jahre. Im Sommer 2022 hatte Wissing die Bahn zur "Chefsache" erklärt, das betonte er erneut. Heute wird aber mehr über das Verbrenner-Aus, synthetische Kraftstoffe (E-Fuels) und über den Neu- und Ausbau von Autobahnen gestritten (mehr zu diesen Streitpunkten lesen Sie hier).

Der "ideologische Streit" um die Autobahnen steht im Weg

Das Bundesverkehrsministerium verfolgt nach eigenen Angaben den Koalitionsvertrag: "Die nächste Etappe 2030 wird bereits vorbereitet. Dazu finden intensive Abstimmungen mit den Ländern und der Branche statt." Doch von den 181 vorliegenden Maßnahmen wurde noch keine erfolgreich umgesetzt. Sofortmaßnahmen gäbe es genug, die sich unmittelbar auf den Bau neuer und schneller Schienen auswirken würden. Die Vorschläge liegen dem Bundesverkehrsministerium vor. Doch getan habe sich auch hier bisher nichts, wegen "ideologischer Streitereien", sagt Dirk Flege von der "Allianz pro Schiene".

Quellen:  Allianz pro Schiene, Bundesverkehrsministerium, ZDF, Twitter Michael Theurer

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