Barbra Streisand ist "guilty". Der Streisand-Effekt, benannt nach der Pop-Ikone, bezeichnet Rechtsstreite, in denen der Ankläger Informationen geheim halten möchte, aber durch den öffentlichen Prozess das Gegenteil bewirkt. Barbra Streisand wollte 2003 per Gerichtsentscheid Luftaufnahmen ihrer mondänen Strandvilla von der Website eines Fotografen entfernen lassen. Dadurch erreichte sie das Gegenteil - die Fotos wurden weltbekannt.
Vielleicht tanzen Stefan Wehrmeyer und seine Mitstreiter der Open Knowledge Foundation (OKF) gerade zu Barbra-Streisand-Songs auf den Tischen. Der Grund: Das Bundesinnenministerium (BMI) will der OKF die Publikation eines Dokuments untersagen. Es bahnt sich ein Rechtsstreit an. Das macht den eingetragenen Verein, der von gerade mal fünf Vollzeitmitarbeitern geführt wird, deutschlandweit bekannt. Und: Der Prozess könnte eine neue Ära im Umgang mit staatlichen Dokumenten einläuten.
Der Hintergund des Streits
Die Geschichte beginnt mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Am 9. November 2011 entschied es, dass die 5-Prozent-Klausel für das Europawahlrecht verfassungswidrig sei. Daraufhin bezogen zwei Mitarbeiter des BMI zum Urteil Position: In einem hausinternen Vermerk vom 16. November 2011 erklärten sie, das BVerfG-Urteil bedeute eine Ablehnung aller Sperrklauseln - auch der 5- Prozent-Hürde für den Bundestag. Davon jedoch wollte die Politik nichts wissen. Die Regierung setzte - den Richterspruch dezent ignorierend - einfach eine 3-Prozent-Klausel für die Europawahl fest. Von einer Änderung des Bundeswahlrechts war überhaupt keine Rede.
Die Open Knowledge Foundation forderte den hausinternen Vermerk des BMIs am 14. Oktober 2013 nach dem Informationsfreiheitsgesetz ein und erhielt diesen auch - jedoch mit Hinweis, sie dürfe das Dokument aus urheberrechtlichen Gründen nicht veröffentlichen. Wehrmeyer hält das für einen Vorwand. "Das BMI fürchtet Störenfriede. Es geht hier nicht um Urheberrecht", sagt er stern.de.
Rechtsexperte: "Zensur durch die Hintertür"
Stefan Wehrmeyer ist 26 Jahre alt und freier Softwareentwickler. Unter Schirmherrschaft der Open Knowledge Foundation betreibt er die Webseite FragdenStaat.de, die Kampagnen für mehr Transparenz fährt. Er findet das Veröffentlichungsverbot absurd und hat den Vermerk - inklusive der Korrespondenz mit dem BMI - am 27. Dezember 2013 auf FragdenStaat.de online gestellt. Das BMI hat die Webseitenbetreiber am 17. Januar abgemahnt, die Dokumente von der Seite runterzunehmen. Ohne Erfolg. "Solange es nicht zu einer einstweiligen Verfügung kommt", sagt Wehrmeyer, "werden wir die Dokumente nicht hinunternehmen. Wiegt das Urheberrecht mehr als das Informationsfreiheitsgesetz? Ich glaube nicht."
Diese Auffassung teilt auch der Pinneberger Informationsrechtsexperte Wilhelm Mecklenburg: "Ein hausinterner Vermerk des BMI ist überhaupt nicht urheberrechtsfähig. Die Abmahnung des Bundesinnenministeriums hat Zensurcharakter - das ist Zensur durch die Hintertür. Die BMI-Bürokraten haben Recht. Die Sperrklausel ist nicht zulässig. Da ist nichts geheim zuhalten. Außer, dass der Staat gemogelt hat, aber das ist kein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse, was durch den Staat geschützt werden darf", sagt er stern.de.
Chance auf den Musterprozess
Tatsächlich haben Stefan Wehrmeyer und Kollegen auf die Abmahnung nur gewartet. Denn nun hat die Plattform die Möglichkeit, einen Musterprozess zu führen. "Wir haben das Dokument online gestellt, um den Rechtsstreit zu provozieren", sagt Wehrmeyer. Und er hält seine Chancen für gut. "Wir sind zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht, wie schon in der Vergangenheit, die Meinungsfreiheit stärken wird und wir damit ein Beispiel setzen können. Staatliche Dokumente wegen Urheberrecht nicht verbreiten zu können, ist Quatsch und muss aufhören. Wir wollen den Weg freimachen, dass niemand Angst haben muss, wenn er staatliche Dokumente veröffentlicht."
Das Bundesinnenministerium bestätigte auf Anfrage von stern.de, dass "das eingeleitete exemplarische Verfahren … [gegen die Open Knowledge Foundation, Anm. d. Red.] eine Reihe von rechtlichen Grundsatzfragen" betreffe. Eine weitergehende Stellungnahme lehnte das BMI mit Hinweis auf das laufende Verfahren ab.
Transparenz - europäisch dekliniert
Ganz gleich wie der Rechtsstreit ausgehen wird: Access-Info.org, das vom spanischen Madrid aus arbeitet, hat den Disput bereits aufgegriffen und die BMI-Dokumente ebenfalls veröffentlicht. Das hebt das Thema Transparenz auf eine europäische Ebene.
Verliert das BMI den Prozess mit der Open Knowledge Foundation, dürften noch weitere Dokumente aus deutschen und europäischen Behörden ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Das Argument "Urheberrecht" hätte - wenn es sich um Material handelt, das von Behörden erstellt wird, die ohnehin von Steuergeldern bezahlt werden - ausgedient.