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Berlin³ zum SPD-Zukunftsplan Kämpfen statt schleimen: Martin Schulz zeigt endlich, was er kann

Wer als Politiker mit dem Rücken zur Wand steht, kann versuchen, sich beim Wähler einzuschleimen. Er kann es aber auch wie Martin Schulz machen – und für Europa werben. Irre? Ja. Könnte aber funktionieren.

Es ist nicht leicht, in diesen Tagen Martin Schulz zu sein. Die Umfragen? Sacken eher in gabrieleske Dimensionen. Seine Sommerreise? Von G20 überschattet. Der Gipfel selbst? In Scholz und Asche gelegt. Die Kanzlerin? Ist erstens auch daran mal wieder so unbeteiligt wie unschuldig und muttiet zweitens alle Attacken schulterzuckend weg: "Schwamm drüber"; kennt man doch, diese kleinen ungebärdigen roten Racker. Boris Pistorius, der neue SPD-Sheriff? Will nach Hamburg erst einmal das Vermummungsverbot lockern; eine Konsequenz, auf die man erst mal kommen muss und die vermutlich auch kein Brüller im SPD-Wahlkampf werden wird. Aber irgendwie ist das auch schon wieder egal.

Andererseits: Ist es das wirklich? Es ist zwar nicht leicht, Martin Schulz zu sein in diesen Tagen – aber man sollte es sich auch nicht zu leicht machen mit ihm. Denn offenbar besitzt der schmächtig wirkende Mann aus Würselen doch erhebliche Nehmerqualitäten und eine ausgesprochene Kämpfernatur. Anders ist sein Auftritt heute in Berlin, die Vorstellung seiner Ideen eines modernen Deutschlands, nicht zu deuten.

Martin Schulz nutzt seine letzte Chance

Martin Schulz hatte einige Gelegenheiten, eine richtig gute Rede zu halten. Er hat sie verstreichen lassen. An diesem Sonntag hatte er praktisch seine letzte Chance, und die hat er genutzt. Klare Ansagen, konkrete Aussagen, konturierte Botschaften. "Deutschland kann mehr" statt verschmiemelter Sozialromantik. Doch, sein Evergreen "Respekt" kam natürlich vor, aber nur einmal, nach einer Viertelstunde. Aber in der Zeit davor hatte Schulz schon einmal grob umrissen, was die Deutschen erwarten würde, wenn sie ihn zum Kanzler wählen würden.

Schulz hat zwar keine Vision, das wäre zu viel versprochen. Aber er hat ziemlich klare Vorstellungen, was er in diesem Land ändern, machen, einführen würde: Eine Investitionsverpflichtung des Staates neben der Schuldenbremse, damit Straßen, Schulen, der Rest des Gemeinwesens nicht weiter verkommen. Eine Bildungsoffensive nebst einer "nationalen Bildungsallianz", die er in den ersten 50 Tagen schmieden will, um die Kleinstaaterei im Schulwesen zu beenden. Eine digitale Revolution der Verwaltung; der Staat soll online permanent für Bürger und Unternehmer erreichbar sein. Dazu: Weniger Aufrüstung. Mehr Europa. Inklusive mehr Geld für Europa. "Ich will über die Straßen ziehen und für Europa kämpfen, auch wenn meine Argumente nicht gleich am ersten Tag überzeugen." So reden nur Überzeugungstäter.

Kämpfen statt schleimen

Wer politisch mit dem Rücken zur Wand steht, hat zwei Möglichkeiten. Er kann versuchen, dem Wahlvolk nach dem Maul zu reden, um sich irgendwie noch ein paar Stimmen zu erschleimen. Er kann aber auch das Gegenteil machen: Aufrecht und mit Anstand gegen die drohende Niederlage kämpfen. Oft fällt sie dann gar nicht mal so verheerend aus.

Man muss nicht mögen, was Schulz in seiner 50-Minuten-Rede vorgetragen hat; man kann auch bemängeln, dass er an keiner Stelle gesagt hat, wie er seine Pläne finanzieren will - aber das verraten andere ja auch nicht. Man weiß jetzt aber viel genauer, woran man mit ihm ist; wie viel Schulz da drin ist, wo SPD auf dem Wahlzettel steht. Das war lange, zu lange nicht so.

Die Zeit spielt gegen Martin Schulz

Vor fünfeinhalb Monaten stand Martin Schulz auch an einem Sonntag fast an derselben Stelle in der SPD-Zentrale und hielt seine erste Rede als Kanzlerkandidat. Er hat damit die Genossen begeistert, ohne irgendeine konkrete Aussage zu machen. Es war der Anfang des Schulz-Hypes, der dann auch deshalb so schnell wieder in sich zusammenfiel, weil der Kandidat keine Inhalte bieten konnte. Er war nicht vorbereitet. Und was die SPD vorbereitet hatte, passte nicht so richtig zu diesem Kandidaten. Es musste alles noch passend gemacht werden. Das war der Fehler dieser so ungewöhnlichen Kandidatenkür. Und es ist die Tragik des Martin Schulz, dass es nun, wo alles zu passen scheint, zu spät sein dürfte. Anders ausgedrückt: Hätte er die Rede, die er an diesem Sonntag hielt, bereits im Januar gehalten – er und die SPD hätten sich einiges ersparen können. Der St.-Martin-Zug wäre vielleicht nicht so losgerast – dafür wenig später auch nicht so fulminant aus der Kurve gedonnert.

Martin Schulz bleiben noch knapp zwei Monate bis zur Wahl. Das ist nicht viel Zeit, den riesigen Abstand zur Kanzlerin zu verringern. Einen ersten richtigen Schritt hat er gemacht. Der Mann will kämpfen. Nicht auszuschließen, dass er mit seiner Methode des aufrecht Untergehens mehr erreicht, als ihm im Moment viele zutrauen. Verdient hätte er es.

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