Es ist bemerkenswert. Zwar läuft die deutsche Wirtschaft auf Hochtouren, ein Sonderfall in Europa. Aber: Innenpolitisch nichts als Zank und Chaos, die Energiewende hakt, das Betreuungsgeld ebenso, der Verfassungsschutz, der die Schande der NSU-Morde mitzuverantworten hat, sträubt sich gegen Reformen.
Trotzdem erreicht die Union im aktuellen stern-RTL-Wahltrend die zweite Woche in Folge 39 Prozent. Verbessern sich die Zahlen noch leicht, hat die CDU/CSU eine klare Machtperspektive: Es würde für Schwarz-Grün reichen, vielleicht sogar wieder für Schwarz-Gelb. Angela Merkel bliebe Kanzlerin, bald wäre von der "Ära Merkel" die Rede. Schlägt sie mit ihrem Sitzfleisch im Kanzleramt noch Helmut Kohl? Hat Ursula von der Leyen Recht, die davon sprach, Merkel sei die Kanzlerin ihrer Generation?
Fragt man die Bürger, so deutet vieles darauf hin: Im aktuellen stern-Politikerranking, in dem es um das Vertrauen der Menschen in die Politiker geht, hängt die Kanzlerin alle Konkurrenten ab und klettert auf den höchsten Wert in ihrer zweiten Amtszeit. Während der Großen Koalition hatten die Beliebtheitswerte Merkels mit den Umfrageergebnissen der CDU nichts zu tun. "Das hat sich geändert", sagt Manfred Güllner, Chef des Meinunsforschungsinstitutes Forsa stern.de. "Merkel wird wieder stärker mit der CDU identifiziert." Das Resultat ist ein Aufzugeffekt: Je populärer die Kanzlerin, desto besser liegt auch die CDU im Rennen. Die Preisfrage ist: Warum ist Merkel überhaupt so beliebt?
Zehn Gründe.
Die Bürger vertrauen der Kanzlerin in der Eurokrise
Angela Merkel ist bescheiden und fleißig
Merkel verspricht wenig bis nichts
Die Regierungschefin leistet sich keine persönlichen Skandale
Merkel reagiert auf Volksmeinungen
Der Themenklau bei anderen Parteien funktioniert
Sie hat keine Konkurrenz in der Union
Sie hat keine Konkurrenz in der Opposition
Neben ihr wirken Männer oft biestig und kleinkariert
Mit der Krise ist das Wir-sind-wieder-wer-Gefühl zurückgekehrt
Die Bürger vertrauen der Kanzlerin in der Eurokrise
Alle Umfragen zeigen es: Die Bürger glauben, dass die Eurokrise bei Merkel in guten Händen sei. Ausschlaggebend ist der Eindruck, die Kanzlerin rücke das Steuergeld der Deutschen nicht leichtfertig für die angeblich "faulen" Südländer heraus. Merkel spielt die Rolle der "schwäbischen Hausfrau", die sie einst als politisches Leitbild beschwor. Sparsamkeit! Disziplin! Das kommt gut an.
Dass die Zahlen eine andere Sprache sprechen - Deutschland hat mittlerweile zwei Billionen Staatschulden und haftet für eine weitere Billion in Eurokrise - ist nicht von Belang. Denn diese Zahlen sind nur Zahlen, sie bedrängen den Bürger nicht, wenn er morgens aufwacht. "Die Menschen haben das Gefühl: Merkel kümmert sich, dass der Unbill der Eurokrise nicht auf den Alltag durchschlägt", sagt Forsa-Chef Güllner. Sie ist eine formidable Unglücksverhinderungskanzlerin.
Die Krise hat - so paradox es klingt - für Merkel einen weiteren Vorteil. Ihre Einsatzorte sind Brüssel, Rom, Madrid, Washington, Peking. Die Kanzlerin, seit jeher präsidial und vermeintlich überparteilich regierend, entfleucht so dem Kleinklein der Innenpolitik. Sollen sich FDP und CSU doch die Köpfe einschlagen - Merkel hat Wichtigeres zu tun.
Angela Merkel ist bescheiden und fleißig
Selbst Getrud Höhler, die glaubt, Merkel sei der Feuerteufel der Demokratie, hält die Kanzlerin für "fleißig". Es ist ja auch unübersehbar: Der Terminkalender Merkels ist so vollgestopft, dass sich Beobachter wundern, wie sie diese Hochleistungspolitik körperlich durchsteht. Zudem verblüfft sie Kabinettsmitglieder immer wieder mit Detailwissen, das sie sich - wann auch immer - angelesen hat.
Ihre Bescheidenheit steht ebenfalls außer Frage. Was bei Kanzler Gerhard Schröder die Brioni-Anzüge und Cohiba-Zigarren waren, sind bei Merkel die ewig gleichen Blazer und eine Vorliebe für Rindsrouladen. Jüngst blitzte eine kostbar anmutende Uhr an ihrem Handgelenk auf - aber es ist nur ein 89-Euro-Dings, von dem der Juwelier sagt, das sei eine Uhr für Leute, die wissen wollten, wie viel Uhr es ist.
Merkel verzichtet sogar auf Blaulicht, wenn sie sich durch Berlin fahren lässt. Ihr Genuss an der Macht ist ein intellektueller, vergleichbar mit dem Vergnügen an einer guten Partie Schach. Allein: Auf ihrem Spielbrett stehen keine Holzfiguren. Sondern reale Menschen.
Merkel verspricht wenig bis nichts
Kanzler Helmut Kohl hatte versprochen, die Wiedervereinigung koste uns nichts - und selbst die "Bild", Kohls Hausblatt, geißelte später diese "Steuerlüge". Sein Nachfolger Gerhard Schröder vergaloppierte sich mit der Ankündigung, er werde die Arbeitslosenzahlen halbieren. Davon war am Ende seiner Kanzlerschaft kilometerweit entfernt.
Angela Merkel hat diese Lektion gelernt: Verspreche nichts, was Du nicht hundertprozentig halten kannst. Sie stapelt lieber tief, um danach selbst kleine Fortschritte als Erfolge feiern zu können. Diese Strategie ist ihr nicht angeboren, sie hat sie bewusst gewählt: Die Kanzlerin spricht vom "Erwartungsmanagement".
Klug ist das in jedem Fall: Angela Merkel produziert bei den Bürgern keine unnötigen Enttäuschungen. Aber diese Strategie engt sie auch ein. Die Kanzlerin bewegt sich immer nur im Korridor des politisch Machbaren, sie vermittelt kein Gefühl von Aufbruch, Sinnstiftung und Vision.
Die Regierungschefin leistet sich keine persönlichen Skandale
Gab es in den sieben Jahren ihrer Kanzlerschaft einen Skandal, der Angela Merkel persönlich anzulasten wäre? Ja, einen. Sie gestattete "Joe" Ackermann, damals Chef der Deutschen Bank, seinen 60. Geburtstag im Kanzleramt zu feiern. Tausende Euro kostete die Sause - und entfachte eine riesige Empörung. Es sah so aus, als hätten die Banker endgültig die Macht in Deutschland übernommen.
Mittlerweile vermeidet Merkel es sogar, sich mit Spitzenbankern fotografieren zu lassen. Noch so eine Lektion.
Vom Ackermann-Dinner abgesehen - war da was? Ungerechtfertigte Dienstflüge, geklaute Zitate, Pöstchen für Verwandte, eine kleine, persönliche Vorteilsnahme, irgendwo? Nein. Deswegen genießt Merkel nicht nur im Ausland, wo die Berlusconis und Sarkozys sich noch ganz andere Sausen erlaubt haben, hohen Respekt. "In einer Welt voller Gauner ist es wohltuend, dass im deutschen Kanzleramt keiner sitzt", sagt Forsa-Chef Güllner. Merkel profitiert sogar davon, wenn in Deutschland ein Guttenberg, Wulff oder von Boetticher über Affären stolpern. Weil sich alle sagen: Das würde Merkel nie passieren.
Merkel reagiert auf Volksmeinungen
Kritiker sagen, Merkel habe keine Prinzipien und sei eine Getriebene. Wohlwollende meinen, Merkel habe einen besonders demokratischen Regierungsstil, weil ihre Politik Rücksicht auf Stimmungslagen und Umfragewerten nimmt. Bestes Beispiel: die Energiewende. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima gingen die Beliebtheitswerte der Grünen durch die Decke - ein Ausdruck der eskalierenden "German Angst" vor der Atomkraft.
Merkel handelte schnell und kühl: Moratorium, Ethikkommission, Ausstieg. Damit warf sie ein Dogma der atomverliebten CDU über Bord und setzte das größte innenpolitische Projekt ihrer zweiten Legislaturperiode in Gang. Eine Überzeugungstat der früheren Umweltministerin? Sicherlich nicht. Machterhalt war das Motiv. Hätte sie nicht reagiert, wäre Winfried Kretschmann nicht der einzige grüne Ministerpräsident geblieben. Und die Union hätte vermutlich Millionen Wähler an die Opposition verloren.
So oder so: Merkels 180-Grad-Drehungen schaden ihr politisch nicht. Im Gegenteil. Die Kanzlerin versichert den Bürgern damit, dass sie in wichtigen Fragen nie gegen das Volk regieren würde.
Der Themenklau bei anderen Parteien funktioniert
Gertrud Höhler hat das Politikkonzept Merkels in ihrem Buch "Die Patin" besonders drastisch beschrieben: "Sie führt ihr Amt wie einen Gemischtwarenladen: Produkte, die nicht gehen, werden aus dem Angebot genommen. Produkte der Konkurrenz, die besser laufen, werden kopiert."
Stimmt. Die CDU tritt inzwischen für die Frauenquote ein, für Kita-Plätze, Mindestlöhne, Homo-Ehen, die Finanzmarkttransaktionssteuer und grüne Technologie. Hilflos verfolgen die anderen Parteien ihre thematische Enteignung: Mit welchen Inhalten sollen sie noch Wahlkampf gegen Merkel machen? Wie sollen sie ihre Anhänger mobilisieren, Wechselstimmung erzeugen? Machtpolitisch legt Merkel mit dem Ideenklau ihre Gegner lahm, Demoskopen sprechen von der "asymmetrischen Demobilisierung". Das schadet der Demokratie: Gibt es keine Alternativen, kann auch niemand wählen.
Offiziell ist die CDU auf einem "Modernisierungskurs", der alte Glaubensgrundsätze beerdigt und die Partei für neue Wählerschichten öffnet. In jedem Fall positioniert sich die Union im XXL-Ausmaß in der Mitte der Gesellschaft, da, wo sich die Mehrheiten tummeln. Merkel hatte schon bei ihrer Wiederwahl 2009 gesagt, sie wolle "Kanzlerin aller Deutschen" bleiben.
Sie hat keine Konkurrenz in der Union
Angela Merkel wird oft als TINA-Kanzlerin beschrieben. Das Kürzel steht für "there is no alternative" ("Es gibt keine Alternative"), eine Parole, mit der die Kanzlerin politisch heikle Vorhaben durchdrückt. Noch treffender TINA indes für Merkels Position in der Union: Wer könnte ihr noch gefährlich werden, wer traut sich zu, mit ihr um die Kanzlerschaft zu ringen? Sie sind alle weg. Norbert Röttgen, Christian Wulff, Peter Müller, Günther Oettinger, Roland Koch, Friedrich Merz, Stefan Mappus, Karl Theodor zu Guttenberg. Wegbefördert, rausgekickt oder über Affären gestolpert. Hinter Merkel kommt personell lange, lange nichts, dann vielleicht Ursula von der Leyen, die aber in einem "Spiegel"-Interview bereits ihre eigenen Ambitionen begraben hat: "Ich sage Ihnen, es gibt in jeder Generation nur einen Kanzler. In meiner ist das Angela Merkel."
Die Bürger stellten Merkel ohnehin nie mehrheitlich in Frage. Allein Karl Theodor zu Guttenberg durfte sich als "Reservekanzler" fühlen, er lag in den Beliebtheitsskalen sogar vor ihr. "Guttenberg war ein glitzerndes Beiwerk zu Merkel. Das hat die Menschen fasziniert", sagt Forsa-Chef Güllner stern.de. Aber der Glitzer entpuppte sich als leeres Versprechen, als verunglückter Stunt eines Karrieristen. Auch das zahlte auf Merkel ein. Güllner: "Merkel ist wie die Sparkassen. Die galten auch mal als altbacken. Inzwischen stehen sie wieder hoch im Kurs, weil sie als stocksolide und seriös wahrgenommen werden."
Personell strahlt die CDU in den Augen politischer Beobachter inzwischen Friedhofsruhe aus. Es gibt aber auch eine andere Sicht auf die Dinge: Merkel hat sich durchgesetzt und ist in den eigenen Reihen unumstritten.
Sie hat keine Konkurrenz in der Opposition
Welcher Oppositionspolitiker bringt die Phantasie der Deutschen so in Wallung, dass er Merkel gefährlich werden könnte? Die Umfragen belegen: keiner. Frank-Walter Steinmeier, der aussichtsreichste Kandidat der SPD, liegt gut 20 Prozentpunkte hinter Merkel, Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel folgen auf den Plätzen. Alle anderen Parteien stellen keinen Kanzlerkandidaten auf, es wäre lächerlich angesichts ihrer Umfragewerte.
Die sogenannte Kompetenzzumessung für die Parteien ("Welcher Partei trauen Sie zu, am besten mit den Problemen Deutschlands fertig zu werden?") untermauert Merkels Monopol. Die Union kommt auf einen Wert von 27 Prozent. Der einzig ernst zu nehmende Verfolger, die SPD, liegt bei 9 Prozent. Forsa-Chef Güllner fasst zusammen: "Es gibt keine Wechselstimmung. Niemand will Merkel aus dem Kanzleramt vertreiben."
Die Stimmung würde sich wohl nur drehen, wenn die Eurokrise mit voller Wucht in die deutsche Ökonomie kracht. Dann könnte die SPD-Troika zumindest behaupten, sie hätte es anders und besser gemacht und sich einen Vorsprung erarbeiten. Stand August 2012, rund ein Jahr vor der Bundeswahl, lautet das Fazit jedoch: Merkel ist völlig ungefährdet.
Neben ihr wirken Männer oft biestig und kleinkariert
"Wildsau." "Gurkentruppe." "Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen." Alles Zitate von Politikern aus Union und FDP. Von Männern, die auch mal auf den Tisch hauen, laut werden, austeilen. Unter der Kanzlerschaft von Gerhard "Hol mal ein Bier" Schröder wäre das nicht so sehr aufgefallen. Unter Merkel schon. Je leiser und überlegter die Kanzlerin agiert, desto knarziger klingen die Lautsprecher der Koalition.
Selbst die kleine Schadenfreude, die FDP-Chef Philipp Rösler in der ZDF-Show "Markus Lanz" zeigte, nachdem er Joachim Gauck als Bundespräsidenten durchgesetzt hatte, wird übel genommen. Nicht zu reden von CSU-Chef Horst Seehofer, der alle fünf Minuten mit Koalitionsbruch droht, sollte das Betreuungsgeld scheitern. "Crazy Horst" lautet eine der Schlagzeilen, die der CSU-Chef über sich lesen konnte.
In der Anfangsphase ihrer Karriere hat Merkel, so schreiben es ihre Biographen, noch emotionaler reagiert: Ärger, Wut und Enttäuschung spiegelten sich auf ihrem Gesicht; eine Besprechung mit Helmut Kohl verließ sie weinend. Mittlerweile hat Merkel ihre Impulskontrolle perfektioniert. Sie trägt in angespannten Situationen Pokerface, sagt lieber drei Worte zu wenig als eins zu viel, und meidet Pathos wie ein trockener Alkoholiker den Schnaps. Deswegen wirkt die Kanzlerin harmloser als sie ist, und die Männer kommen biestiger rüber als sie sind. Aber auch das hilft - ihr.
Mit der Krise ist das Wir-sind-wieder-wer-Gefühl zurückgekehrt
Deutschland galt mal als "kranker Mann Europas". Einbetonierter Arbeitsmarkt, unterentwickeltes Finanzsystem, rückständige Industrie. Gut zehn Jahre ist das her. Damals schien Japan die Welt wirtschaftlich zu überrollen. Kanzler Gerhard Schröder brach die Starre auf - mit der Agenda 2010 und mit einem selbstbewussten Auftreten auf dem internationalen Parkett. Irak-Krieg? Ohne uns.
Die Kanzlerin lebt gut vom Erbe ihres Vorgängers. Sie musste seine Ansätze nur fortführen, die politischen Kosten der Reformen nahm Schröder mit nachhause. Mittlerweile feiert die Zeitschrift "Forbes" Merkel als "mächtigste Frau der Welt". Andere rufen sie zur "Königin von Europa" aus. Merkel zieht Bewunderung und Neid auf sich, weil sie aus einer Position der Stärke heraus agieren kann.
Nun können die Deutschen jeden Tag nachlesen, was sie richtig und die anderen falsch machen. Staatsverschuldung? Schaut Euch mal Italien und Spanien an. Stromausfälle? In den USA, ist hier unbekannt. Exportfähige Produkte? Hat Deutschland reichlich, Griechenland gar nicht. Und so weiter, und so fort. Dieses "Wir-sind-wieder-wer"-Gefühl stellt sich zu Zeiten der Kanzlerin Angela Merkel ein. Auch wenn sie, Ironie der Geschichte, den Erfolg oft nur mitnimmt. Glück gehört eben auch dazu, um Merkel zu sein.