Zwei Stunden südlich von Tromsø, Nordnor wegen: Auf dem Weg zum Haus von Delphine Garcin in Øverbygd begegnen einem keine Autos, dafür aber zwei Elche. Es ist kurz vor 16 Uhr, und die Sonne geht schon unter, eisblaue Dämmerung bei minus 20 Grad, hinter den Schneemassen am Straßenrand nichts als dichter schwarzer Wald. Seit zwei Jahren lebt die französische Fotografin und Seglerin mit ihrem Freund hier oben am Rande Europas, in einer Gegend, die totenstill wäre, wenn sie die Hunde nicht hätten: 30 Alaska-Huskys heulen in den Abendhimmel. Wie Hunde klingen sie nicht, eher wie eine Schar seltsamer Nachtvögel.
Delphine ist 32 und in der Nähe von Grenoble aufgewachsen, in den französischen Alpen. Nach Norwegen ist sie nicht wegen des Skifahrens gekommen, sondern als Seglerin. Schon als Kind war sie immer auf Schiffen, erzählt sie und kramt einen Stapel Bücher mit Seekarten hervor. "Früher mit meinem Großvater auf dem Mittelmeer südlich von Marseille. Als Jugendliche habe ich meine ersten Segelscheine gemacht. Und dann nicht mehr damit aufgehört." Sie hat Seefahrt studiert und nach ihrem Diplom als Offizierin bei der französischen Handelsmarine gearbeitet. "Ich habe ein Kapitänspatent für Fracht- und Personenschiffe mit einer Bruttoraumzahl bis 500", sagt sie. "So heißt das." Vor allem aber gebe es ihr etwas. "Die Freiheit auf dem Meer."
Gewaltig und majestätisch
Im gusseisernen Küchenherd knistert das Holzfeuer, und Viktor, der einzige Husky, der ins Haus darf, weil er sich an der Pfote verletzt hat, sucht sich einen möglichst kühlen Platz weit weg davon. Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man die Lichter des tief eingeschneiten Blockhauses, das Delphine an Gäste vermietet. Zurzeit an ein junges chinesisches Pärchen, das draußen mit Selfiesticks die Gegend erkundet. "In China glaubt man, dass das Nordlicht die Fruchtbarkeit erhöht", sagt Delphine. Zumindest habe ihr das jemand erzählt. "Es gibt in Tromsø eine chinesische Agentur, die sich auf Reisen an den Polarkreis zu dieser Jahreszeit spezialisiert hat." Leider schimmert der Himmel an diesem Abend nicht grün. Die Chinesen halten ihre Handys in die schwarze Nacht.
Ob sie eine Abenteurerin ist? Delphine denkt lange nach, sie hat sich die Frage nie gestellt. "Für mich ist das nichts Besonderes. Ich habe immer so gelebt", sagt sie. "Draußen, wo die Natur noch wild ist." Ende März, wenn das kurze Frühjahr der Arktis beginnt, wird sie wieder auf dem Meer rings um Spitzbergen unterwegs sein. Seit 2013 ist sie jedes Jahr dort, steuert Forschungsschiffe für Polarexpeditionen oder segelt als Skipperin mit kleinen Reisegruppen umher.

Wie die Liebe zum Wasser ist auch die Liebe zur Fotografie eng mit ihrem Großvater verbunden – der Franzose Gilbert Garcin ist berühmt für seine surrealen Fotomontagen in Schwarz-Weiß. "Er macht ganz andere Sachen als ich", sagt Delphine. "Seine Bilder sehen aus wie abstrakte Träume. Früher habe ich ihm bei den Aufbauten geholfen und dabei die ganze Zeit von ihm gelernt." Nachdem sie länger in Spitzbergen gelebt hat, habe sich ihr Blick auf die Landschaft verändert. "Alles, was so gewaltig und majestätisch aussieht, ist gleichzeitig so fragil und bedroht." Mit ihren Bildern möchte sie einen Zugang zu dieser Schönheit eröffnen. "Wenn man etwas liebt, dann möchte man es auch beschützen."
Es ist spät geworden, Futterzeit für die Hunde, und draußen ist es jetzt noch eisiger, minus 25 Grad, schätzt Delphine. Weil die Luft so trocken ist, spürt man die Kälte erst, wenn einem die Knie wehtun. Winter hier oben heißt vier Monate lang Thermohosen tragen, mindestens. Die Hunde warten schon ungeduldig auf Delphine. Sie müssen gegen die Kälte anfressen. Ein Kilo pro Tag, halb Fleisch, halb Trockenfutter, dazu ein Schluck Fischöl aus dem Kanister. Dann ist Ruhe. Feierabend.
Am nächsten Morgen erzählt Delphine, wie sie sich damals, auf den zerklüfteten Inseln Svalbards, zu denen Spitzbergen gehört, in den Norden verliebt habe. Auch ihre Leidenschaft für die Alaska-Huskys hat sie dort entdeckt. Und beim lokalen Hunderennen schließlich Espen kennen gelernt, ihren Freund. Seitdem führe sie erstmals seit Langem wieder ein sesshaftes Leben: "Davor bin ich nur auf dem Meer rumgegondelt."
Mit 14 Huskys durch Norwegen
Espen Prestbakmo, 48, ist in Nordnorwegen aufgewachsen und hat "Friluftsliv" studiert, "Freiluftleben": eine Mischung aus Philosophie und Naturschutz – und ein Sammelbegriff für sämtliche Fertigkeiten, die man zum Überleben in der Wildnis braucht. Seit ein paar Monaten bieten die beiden geführte Touren an, die sie "Offtrack Experience" nennen: Hüttenwanderungen, Kanufahrten, im Winter Ausflüge mit den Hunden. Viel wichtiger ist Espen aber: Er ist den Finnmarksløpet mitgefahren. Und zwar fünf Mal.
In Hundeschlittenfahrerkreisen gilt das Rennen als eines der härtesten der Welt, vergleichbar mit dem Yukon Quest in Alaska. Die Langstrecke mit einem Gespann aus 14 Huskys geht über 1200 Kilometer durch den Norden Norwegens und ist wegen ihrer Bedingungen berüchtigt: Eisstürme, steiniges Gelände und unmenschliche Kälte Mindestens sechs Tage brauche man, sagt Espen, meistens mehr. Die Schnelligkeit ist aber nicht das wichtigste. "Es geht ums Durchhalten." Dieses Rennen einmal mitzufahren ist auch Delphines nächstes großes Ziel.

Stunde um Stunde auf dem Schlitten stehen, bei Dunkelheit mit der Stirnlampe am Kopf als einziger Lichtquelle. Espen nennt dieses Gefühl "in a bubble", man befinde sich in einer Blase. Der härteste Gegner sitze im Gehirn. Mit den Hunden sei das nämlich so: Sie merken sofort, wenn ihr "Musher", also der Mensch, der sie lenken soll, schwächelt. Wenn er nervös wird oder ihre Kräfte falsch einschätzt. "Dann legen sie sich in den Schnee und streiken. Wenn das Vertrauen verloren ist, kann kein Kommando der Welt sie zum Weiterlaufen bewegen." Manchmal streiken auch einzelne Hunde. Die müssen dann auf dem Schlitten weitertransportiert werden. Das Größte, was ein Musher bei so einem Rennen erreichen kann, ist daher: Alle Hunde körperlich und mental so stabil zu halten, dass sie die Ziellinie erreichen. Ein erhabener Moment, sagt Espen. Auch für die Tiere. "Wenn ein Hund so ein Rennen einmal beendet hat, vergisst er das nie."
Warum macht man das? Hier leben? Die Schlittenrennen in der Einsamkeit? Espen und Delphine finden dafür keine Worte. Aber ein Video auf dem Handy: Der endlos weite Schnee schimmert blau wie der Himmel. Der Horizont wird unsichtbar, und die Sonne steht so tief, dass sie den Boden zu berühren scheint. Dann erzählt Espen, wie ihn zwei seiner Leithündinnen einmal aus einem Schneesturm gerettet haben. "Ein Mensch kann in so einer Situation nicht mehr viel machen. Aber die Hunde spüren, wo sie langlaufen müssen." Und als er das sagt, glitzern in seinen Augen tatsächlich ein paar Tränen.
Gefrorene Nasenhaare
Mit einem Hundegespann sei es so ähnlich wie mit den Menschen auf einem Schiff, sagt Delphine. "Als Kapitän muss man Stimmungen spüren, bevor sie zum Problem werden." Bis zum Finnmarksløpet ist es für sie noch ein weiter Weg. Darum trainiert sie zurzeit jeden Tag. Jetzt, am frühen Morgen, hocken die Hunde noch etwas trübsinnig in ihren strohgepolsterten Hütten, die aussehen wie übergroße Kaninchenställe. Aber kaum hat Delphine ihnen das Geschirr angelegt, kann sie die Tiere nur noch mit einem schweren Metallanker am Laufen hindern.

Berg hoch, durchs Gestrüpp. Die Landschaft ist schwarzweiß, und alles, was schwarz ist, muss umfahren werden, Bäume, Felsen, steile Abbruchkanten. Ist hier ein Weg? Egal, die Hunde finden einen. Als Mensch hat man nun nur noch eine Aufgabe: Auf den Kufen stehen, per Gewichtsverlagerung den Schlitten gerade halten, ab und zu Schwung geben. Vor allem aber: bremsen. Die grobgezackte Stahlkralle zwischen den Kufen ganz fest in den Schnee treten. Es fühlt sich fies an, die armen Hunde haben ja schon das ganze Gewicht an der Leine. Aber, sagt Delphine, wenn man sie zu schnell laufen lässt, werden sie müde. Und dann wird gestreikt.
Alaska-Huskys wurden von Goldgräbern gezüchtet und finden nichts schöner, als schwere Sachen durch tiefen Schnee zu ziehen, erklärt Delphine beim Zwischenstopp an einer Waldhütte. Sie hat ein Feuer gemacht, es gibt Rentiersuppe aus der Tüte. Die Pause gehört zum Training – der Lauftrieb der Hunde ist so ausgeprägt, dass sie am liebsten gar nicht anhalten möchten. Wenn sie unterwegs mal müssen, strecken sie die Hinterbeine hoch und laufen auf den Vorderpfoten weiter. An diesem Tag ist nach zwei Stunden aber erst mal Schluss. Delphine muss sich auf das Wochenende vorbereiten – dann findet im Nachbarort Råvatn der "Troms Quest" statt, das jährliche Großereignis für die Hundeschlittenfahrer der Region.

Der Tag des Rennens ist ein klirrend klarer Samstagmorgen. Die Sonne strahlt, die Nasenhaare frieren ein, die Hunde setzen gelbe Markierungen in den Schnee. Man sieht Kinder, die von ihren Huskys an der Leine über den Boden gezogen werden, und Erwachsene, die versuchen, diese Leinen wieder zu entwirren. Im Startbereich kommt es zu kleineren Auffahrunfällen – auch die Hunde wollen einander Hallo sagen.
Grenzen
Delphine tritt in der kürzeren Distanz an, 60 Kilometer. Vergangenes Jahr hat sie das Rennen gewonnen. Dieses Mal geht alles schief: Auf halber Strecke muss sie Espen anrufen. Hund Karstein hat keine Lust mehr und stemmt sich gegen die Laufrichtung. Auf dem Schlitten will er auch nicht bleiben. "Das passiert", sagt Espen nur. Vielleicht hat ihm die Position im Gespann nicht gepasst. Oder er hatte einfach einen schlechten Tag. Abends am Küchentisch denkt Delphine noch lange darüber nach, warum der Hund nicht mitmachen wollte. Aber genau das sei ja auch das Schöne. "Wenn man nah an der Natur ist, ist man immer auch nah an seinen Grenzen," sagt sie. Es gibt immer wieder Dinge, die sich nicht planen lassen. Und genau so möchte sie leben.