Vermutlich machen Sie sich gerade mehr Sorgen um Ihre Gesundheit als um Ihr Geld. Das ist verständlich und vermutlich auch richtig. Es gibt nur einen Unterschied: Ihr Geld ist bereits infiziert. Von einer "Markt-Pandemie" sprach diese Woche das "Wall Street Journal".
Die Wucht, mit der es am Aktienmarkt seit Tagen nach unten geht, hat viele überrascht. Die Kurse fallen ins Bodenlose, und es gab kaum einen Tag diese Woche mit Ruhe, mit Gegenwehr und Gegenkäufen. Wir erleben den schlimmsten Einbruch seit Lehman Brothers, und eine der schnellsten Korrekturen der Geschichte, sie übertrifft sogar den "Schwarzen Montag" von 1987. Es herrscht Panik, und zwar zu Recht. Erstaunlich ist nur, dass sie so spät kam.
Neu ist, dass wir die Kontrolle verloren haben
Was aber hat sich verändert zu der Lage vor zwei Wochen, als sich die Märkte noch zu neuen Höchstständen aufmachten? Es ist die Ungewissheit. Neu ist ja nicht, dass das Corona-Virus Europa oder die USA erreicht hat. Neu ist, dass wir in Europa und auf anderen Kontinenten die Kontrolle verloren haben – nicht nur bei der Ausbreitung des Virus, sondern in Bezug auf unsere Fähigkeit zur Abschätzung, was passieren wird.
Ungewissheit ist etwas anderes als Risiko oder Unsicherheit. Risiken können wir beurteilen und berechnen, das ist eine Frage von Simulationsmodellen und Mathematik. Unsicherheit heißt: Wir wissen, was passieren kann, Wahrscheinlichkeit, Ausmaß und Zeitpunkt sind uns unklar. Ungewissheit bedeutet: Wir wissen nicht mehr genau, was passieren kann, kennen die Wahrscheinlichkeit auch nicht. Es fehlt uns das Modell, die Kalkulation. Und wir erleben gerade eine neue Ungewissheit globalen Ausmaßes. Ein Virus, vor wenigen Wochen noch exotisch in den Tiefen des Riesenreiches China und gut für einen Witz nach einem Nieser, ist nah, real und unkalkulierbar geworden – und da ist die Milde oder Härte eines möglichen Krankheitsverlaufes oder ob 0,3 oder 0,7 Sterberate erstmal egal.
Was SARS und die Spanische Grippe uns erzählen
Seit dem Ausbruch arbeiten wir mit zwei Analogien: Einmal mit der SARS-Epidemie von 2002/2003 – und der Spanischen Grippe von 1920. Bei dem SARS-Vergleich heben wir neben der Infektions- und Sterberate vor allem die Bedeutung hervor, die China inzwischen für die Weltwirtschaft hat: ein Drittel des Welthandels, zehn Mal so viel wie bei der SARS-Epidemie, und knapp ein Fünftel des globalen BIP. Und wir stellen fest, dass die Welt viel vernetzter geworden ist: "Just in time" – das Mantra der modernen Produktion erlebt die größte Störung seit Jahren, die Lieferketten sind durcheinander und keiner weiß, wie stark sie gestört sind, wie viele Hunderttausend Container in Häfen liegen, wo sie nicht sein sollten.
Die Analogie zur Spanischen Grippe hat weniger mit der Wirtschaft zu tun, sondern mit der nahezu apokalyptischen Erfassung, was der Menschheit drohen könnte: Seit Wochen erleben wir schon drastische Maßnahmen, die wir zu Anfang des Jahres nicht für möglich gehalten haben: Die Abriegelung von Millionenstädten, Kreuzfahrtschiffen und Hotels als Luxusgefängnisse. Japan schickt 12,8 Millionen Kindern in Zwangsferien. So etwas kannte man nur aus Filmen und Geschichtsbüchern über die Pest.
Auch in der Wirtschaft haben wir innerhalb kurzer Zeit Extremes erlebt: große Messen, die komplett ausfallen; Fabriken, die wochenlang zu Geisterhallen werden; Flugverbindungen, die eingestellt werden; Autohersteller, die Komponenten in Koffern einfliegen; Banken, die ihre Belegschaften in Tokio in A und B-Teams teilen, die keinen Kontakt haben dürfen.

Was also kommt noch auf uns zu?
"Wir müssen besorgt sein, aber es ist gefährlich über das Ausmaß zu spekulieren."
Diesen Satz notierte ich mir auf einer Konferenz in Berlin diese Woche, er kam vom Chef eines der größten Private-Equity-Fonds der Welt. (War es die vorerst letzte Konferenz, auf die ich gegangen bin? Allein diese Frage, die sich nahezu jeder stellt, wirbelt unser Arbeitsleben durcheinander.) Was der Satz des Investors sagen will: Es ist unseriös und unmöglich vorauszusagen, was passiert, weil die Szenarien so extrem sind.
Das klassische "V" oder eine Krise wie 2009
Wenn das Virus sich in einigen Wochen verflüchtigt, werden wir das klassische "V" erleben. An den Märkten können alle, die den Einstieg verpasst haben, beherzt kaufen oder nachkaufen. (Jetzt panisch zu verkaufen, ist übrigens auch nicht klug.) Der Konsum wird anschwellen wie ein Chor, der Beethovens "Ode an die Freude" sinkt. Das Geld ist ja nach wie vor da. Das V-Szenario, schreibt das "Wall Street Journal", sei derzeit "extrem optimistisch".
Wenn sich das Virus in mehreren Wellen ausbreitet, wird unsere Wirtschaft einen Schock und Einbruch erleben, der uns die dunkelsten Stunden von Lehmann Brothers und der Krise 2009 ins Gedächtnis ruft – und hier gibt es, zumindest in Bezug auf die Wirtschaft, eine gute und eine schlechte Nachricht.
Die schlechte Nachricht: Der Corona-Schock trifft auf eine ohnehin erschöpfte Weltwirtschaft, die gebeutelt ist vom Brexit und Handelskriegen; Deutschland war am Rande einer Rezession, die Industrie im Grunde schon drin. Der Schock trifft Länder, die ihre Dynamik verloren hatten und mit anämischem Wachstum vor sich hin wurschtelten; er trifft Banken, die kaum noch Gewinne machten und alle Hoffnungen auf steigende Zinsen fahren lassen können; er trifft Branchen wie den Handel, die Autohersteller und ihre Zuliefererbranche, aber auch die deutsche Mode- oder Möbelbranche, die ohnehin mit strukturellen Problemen kämpfen. Der Schock trifft uns auch in einer Zeit, in der die Zinsen schon bei oder unter Null sind und der fiskalische Spielraum mancher Länder strapaziert oder erschöpft ist.
Die gute Nachricht: Wir haben den Instrumentenkasten. Wir wissen, was zu tun ist (zumindest für die Wirtschaft, das gilt nicht für das Virus und das Gesundheitssystem): Die Zentralbanken würden Zinsen senken und Anleihen kaufen, eine Variante und Neuauflage des "whatever it takes". Kurzarbeitergeld, Liquiditätsspritzen, Bankenrettung, Notverstaatlichungen, Konjunkturprogramme – das alles ist erprobt und gemacht worden, und wir würden es wieder tun. Und da werden Defizite und Schuldenregeln auch erst Mal egal sein, da wird es nicht um Prinzipien gehen, sondern ums Eingemachte.
New Work als Notfallmaßnahme
Teil der guten Nachricht ist: Auch wenn die deutsche Wirtschaft ihre Dynamik verloren hat, steht sie einigermaßen robust da, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, der fiskalische Spielraum des Staates ist groß. Das gilt auch für die Börsen: In einer Welt mit Minuszinsen wird das Kapital wieder in Aktien streben, Cash wird nur kurze Zeit King bleiben.
Wie gesagt, beide Szenarien sind möglich, aber vermutlich gibt es noch weitere, die wir nicht kennen. Wir müssen vorerst mit dieser Ungewissheit leben, nicht in Panik verfallen, aber die Panik verstehen. Dass der Rat, sich die Hände zu waschen, einmal der wichtigste der globalisierten Welt werden würde, hätte ich nie gedacht. Und das Homeoffice, das Herzstück der "New Work"-Welle, eine Notfallmaßnahme wird, ebenfalls nicht (Wir führen unfreiwillig gerade die größte Feldstudie durch, ob Homeoffice wirklich so effizient ist).