Unsere Mitarbeiter sind unser wichtigstes Kapital – das ist so ein Satz, den Chefs immer mal raushauen. Mutmaßlich, ohne sich selbst so recht zu glauben. Momentan dürfte er in vielen Unternehmen zu neuer Geltung kommen. Denn Personal wird vielerorts händeringend gesucht. Im zweiten Quartal des Jahres waren rund zwei Millionen Stellen offen. Besonders betroffen: Gastronomie und Tourismus. Beide Branchen lagen während der Corona-Pandemie zwischendurch komplett still. Große Teile des Personals wandten sich als Konsequenz ab und kehrten nicht zurück. Auch im Handwerk und in der Pflege ist der Fachkräftemangel deutlich spürbar. Wer auf Jobsuche ist, kann sich seine Stelle momentan oft aussuchen.
So wie André Mechelhoff aus Osnabrück. Der Elektriker hat deutlich gemerkt, wie sich die Zeiten geändert haben: "Früher musste man sich ja dafür prügeln quasi, dass man eine Stelle kriegen konnte", erinnert sich der 28-Jährige. Nach einem neuen Job musste er allerdings in diesen Tagen nicht lange suchen. Er wurde ihm praktisch "hinterhergeworfen", wie er sagt. Mechelhoff konnte aus mehreren Angeboten auswählen, sein jetziger Chef bot ihm eine Vier-Tage-Woche und gute Bezahlung. "Ein befreiendes Gefühl" sei das, nachdem er seinen alten Job coronabedingt aufgeben musste. So wie ihm dürfte es derzeit vielen gehen. Bewerber und auch bereits Angestellte sind momentan durch die Mangelsituation auf dem Arbeitsmarkt in einer guten Ausgangsposition, wenn sie über ihre Bezahlung oder andere Entscheidungsfaktoren verhandeln möchten.
Fachkräftemangel wird zum Teufelskreis
Allerdings wird der Fachkräftemangel trotz der sich bietenden Job- und Verhandlungschancen auch für die Arbeitnehmer selbst offenbar mehr und mehr zur Belastung. Zu dieser Erkenntnis kommt eine repräsentative Befragung, die das Institut Respondi im Auftrag des Jobportals "meinestadt.de" unter Angehörigen von nichtakademischen Berufen durchführte. Die Ergebnisse stellte "meinestadt.de" dem stern und RTL exklusiv vorab zur Verfügung.
Das Resümee von "meinestadt.de"-CEO Mark Hoffmann: "Wir befinden uns in einem klassischen Dilemma." Auf der einen Seite, so führt er aus, gebe es gerade "großartige Chancen einen neuen Job zu finden." Gleichzeitig sorge der große Fachkräftemangel in den Unternehmen dafür, dass die bereits Beschäftigten immer mehr arbeiten müssten. "Das bindet am Ende des Tages die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger an das Unternehmen." Das Ergebnis: Abwanderungswillige Angestellte, der Fachkräftemangel verschärft sich selbst. Ein Teufelskreis.
Die Zahlen der Studie untermauern das: Rund 64 Prozent der Befragten gibt an, den Fachkräftemangel zu spüren. Mehr als ein Viertel gibt an, Überstunden zu machen, rund ein Drittel hat derzeit mehr Arbeit zu erledigen.
Die Ergebnisse im Detail:
Die Mehrbelastung sorgt offensichtlich dafür, dass sich Angestellte schneller "draußen" umschauen, Stellen gibt es schließlich genug. Torsten Withake, Leiter der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit, bestätigt, dass der Arbeitsmarkt derzeit sehr arbeitnehmerfreundlich ist. Ausgebildete Fachkräfte hätten – anders als während der Corona-Pandemie – sehr gute Chancen, einen Job zu finden. Je besser qualifiziert, desto besser die Chancen, sagt er. Zudem gebe es regionale Unterschiede. "Wenn sie im Münsterland beispielsweise Gas- und Wasser-Installateur sind, dann können sie sich mit Sicherheit die Arbeitsstellen aussuchen", führt Withake als Beispiel an. Besonders nachgefragt seien neben Handwerksberufen zudem unter anderem examinierte Pflegekräfte, Ärzte und Erzieher. Was es im Wettbewerb um das Personal brauche, sei eine gewisse Motivation der Arbeitgeber, auf die Arbeitnehmer zuzugehen, "auch vielleicht ein bisschen flexibler zu sein, als man das früher gewesen ist. Häufig spielt auch die Frage der Entlohnung eine Rolle", so Withake. Als Verbraucher müsse man sich wiederum darauf einstellen, dass der Wert (und damit der Preis) für bestimmte nachgefragte Leistungen künftig steige.
Was den umworbenen Kandidaten mit Blick auf ihre nächste Stelle wichtig ist, hat "meinestadt.de" in der Befragung ebenfalls abgeklopft und mit Ergebnissen aus den vergangenen fünf Jahren verglichen. So gaben unterm Strich 2017 noch 63 Prozent an, ein überdurchschnittliches Gehalt sei ihnen wichtig oder sehr wichtig – 2022 waren es rund 83 Prozent. Ebenfalls stark gestiegen ist der Wunsch nach geregelten Arbeitszeiten. Die Aufstiegschancen im Unternehmen nahmen hingegen an Bedeutung ab.
Übersicht: Geregelte Arbeitszeiten sind wichtiger als Aufstiegschancen
Befragte, die die untenstehenden Aspekte als "wichtig" oder "sehr wichtig" einstuften (Ergebnisse gerundet, Höchstwerte fett):
2017 | 2021 | 2022 | |
Ein überdurchschnittliches Gehalt | 63 % | 75 % | 83 % |
Pünktlichkeit der Gehaltszahlung | 92 % | 95 % | 96 % |
Geregelte Arbeitszeiten | 77 % | 83 % | 93 % |
Bezahlte Überstunden | 76 % | 80 % | 84 % |
Ein sicherer Arbeitsplatz | 93 % | 96 % | 97 % |
Gute Aufstiegschancen im Unternehmen | 62 % | 65 % | 57 % |
Vor allem in den arg von der Pandemie gebeutelten Sparten Tourismus und Gastronomie zeigte sich wiederum eine hohe Wechselbereitschaft in eine "pandemiesichere" Branche. Corona hat hier offenbar Spuren hinterlassen. 38 Prozent der Befragten könnten sich einen entsprechenden Wechsel vorstellen, viele dürften schon weg sein. Wie Daten des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und der Bundesagentur für Arbeit zeigen, hat die Branche 2020 den größten Negativsaldo zu verzeichnen. Das bedeutet, es wanderten deutlich mehr Arbeitskräfte ab, als neu dazu kamen. Wir es anderen Branchen erging, zeigt die untenstehende Übersicht.
Es zeigt sich: Die vergangenen Jahre haben den Arbeitsmarkt offenbar ordentlich umgekrempelt. Mark Hoffmann spricht von einem Wandel weg von einem Arbeitgebermarkt und eher hin zu einem Arbeitnehmermarkt, der nun bereits seit ein paar Jahren vor sich gehe. Die Corona-Pandemie dürfte die Entwicklung beschleunigt haben. Und mit Blick auf die Zukunft wird auch der demographische Wandel in der Gesellschaft für weitere Veränderungen sorgen. Jobsuchende bringt das hinsichtlich der Erfüllung ihrer Bedürfnisse erst einmal in eine günstige Position, es bedeutet allerdings auch möglicherweise eine Mehrbelastung. Für die Arbeitgeberseite braucht es nicht nur kurzfristige Anpassungen, sondern nachhaltige Lösungen, um die Löcher zu stopfen. Sonst liegen irgendwann ganze Branchen möglicherweise brach und die Preise für erbrachte Leistungen schießen für die Kunden in den Himmel.
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