Noch immer plagen mich Schuldgefühle: Ich habe Dich nie richtig verstanden. Und Du kamst mir nicht richtig nahe. Wie gern würde ich die Zeit zurückdrehen. Dich um Verzeihung bitten. Und noch einmal bei und mit Dir sein.
Du bist mein großer Bruder. Aber unsere Mutter erlitt eine Fehlgeburt. Du kamst leblos zur Welt. Nicht mal ein Grab gibt es, zu dem ich gehen könnte. Noch immer trauere ich um Dich. Ich fühle mich so sehr mit Dir verbunden. Und würde gern all das Dunkle von damals irgendwohin tragen, wo es hell und freundlich ist.
Vor 33 Jahren bist Du gestorben. Damals hat mich Dein Tod kaum berührt. Lange Zeit warst Du für mich eine Last. Du hattest wohl ein Alkoholproblem. Ich habe Dir nicht geholfen. Das bedauere ich heute sehr.
Wir zwei waren unzertrennlich. Doch ganz allmählich entfernten wir uns voneinander. Dann passierten Dinge zwischen uns, die mich tief enttäuscht und verletzt haben. Erst die Entfremdung, dann wurde ich für Dich offenbar zum Feind. Warum nur?
Ich wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Du starbst an einem Tag im März 1945 – an einem Herzinfarkt. Jetzt erforsche ich meine Familiengeschichte und frage mich: Wie hast Du nur die Nazi-Zeit überstanden? Ich kann nur mutmaßen. Wie gern hätte ich Dich kennengelernt – und selbst befragt.