Ostern ist schon lange vorbei, doch im Raum 56 steht noch der Weihnachtsbaum. "Da ist alles genau so wie am letzten Tag vor der Flucht", sagt Viktoriia Maryniuk. Sie ist die Klassenlehrerin der 7a des Gymnasiums Nummer 1 in Odessa. Raum 56 ist das verlassene Klassenzimmer. Nach den Weihnachtsferien mussten die Schulen in Odessa in den Corona-Lockdown. Als sie zurückdurften, blieb ihnen nur ein Tag bis zum Angriff Russlands. "Zum Aufräumen sind wir nicht mehr gekommen. Aber wir haben uns immerhin alle noch einmal persönlich gesehen." Maryniuk muss Luft holen. "Ich bin mir ganz sicher, wir sehen uns alle bald wieder."
Zuerst das Wichtigste: Alle 29 Schülerinnen und Schüler der 7a sind in Sicherheit. "In Sicherheit", das ist auch die neue Adresse von einigen Jungen und Mädchen der Klasse. Aus Angst möchten nicht alle Eltern ihren genauen Aufenthaltsort mitteilen. Vermutlich lebt die Hälfte in Odessa oder Umgebung. Drei Kinder sind mit ihren Familien in die Westukraine geflüchtet und elf ins Ausland. Nach Moldau, Griechenland, Rumänien, Polen, Bulgarien, Österreich und nach Deutschland. Der Krieg hat die 7a auf acht verschiedene Länder verteilt, in unterschiedliche Zeit- und Klimazonen.
"Normaler, konzentrierter Unterricht ist die beste Ablenkung"
Donnerstag, dritte Stunde nach ukrainischer Zeit: Deutschunterricht mit Viktoriia Maryniuk, so steht es im Plan, und der gilt unverändert weiter. Zuerst Kontrolle der Hausaufgaben: Vergangenheitsformen verschiedener Verben. Nikoleta sitzt in Athen im dünnen T-Shirt vor dem Computer, während Ksenia in Hamburg den Reißverschluss ihres dicken Wollpullis bis unters Kinn gezogen hat. Die Klasse ist fast vollständig anwesend. Nur Artem in Dortmund trödelt und kommt zu spät aus der Pause zurück.
Ukrainische Schüler sind routiniert im Onlineunterricht. Schon kurz nach Beginn der Pandemie verfügte das Schulsystem über eine funktionierende digitale Lernplattform. "Inzwischen kenne ich viele Kinderzimmer", sagt Maryniuk. Während der Pandemie haben die Zwölf- und 13-Jährigen noch häufiger mit faulen Ausreden geschwänzt: schwaches Netz oder Oma krank. Jetzt sind meistens alle dabei. Niemand will die Gelegenheit verpassen, die anderen wiederzusehen. "Normaler, konzentrierter Unterricht ist die beste Ablenkung für meine Schüler", sagt die Lehrerin.

Ihr Laptop steht auf dem Esstisch eines kleinen Ferienapartments in Prien am Chiemsee. Ihr gegenüber hat ihr Sohn Valera seinen Computer aufgeklappt. Er hat gerade eine Freistunde und chattet mit seinem Freund Anton. Dessen Eltern sind Vietnamesen und in den 1980er-Jahren vor dem Krieg in Vietnam nach Odessa geflüchtet. Und nun, 40 Jahre später, mit ihren Kindern wieder zurück. Trotzdem nimmt Anton selbstverständlich weiter am Unterricht teil. In der Schlafkammer nebenan arbeitet Valeras ältere Schwester Mariia mit dem Laptop auf dem Schoß. Die Medizinstudentin ist in Gedanken weit weg, in ihrer Anatomie-Vorlesung.
Entspannungsübungen und Verdrängung
Ohne den Vater sind die drei in Etappen über Moldau, Rumänien und Österreich nach Deutschland geflüchtet. "Bis auf zwei Tage habe ich meinen Unterricht immer planmäßig gehalten", sagt Maryniuk; sie spricht perfekt Deutsch. 2006 wurde sie in der Ukraine als Deutschlehrerin des Jahres ausgezeichnet.
Nach ein paar Wochen in Deutschland hat sie Angebote, als Dolmetscherin oder an einer Schule zu arbeiten. "Aber ich kann nur am Nachmittag. Vormittags muss ich unterrichten. Die Kinder brauchen mich."

Zu Beginn des Krieges hat Maryniuk die Klasse noch oft gefragt, wie es ihnen geht und ob sie etwas auf dem Herzen haben. Inzwischen nicht mehr. "Dann müssen die nur weinen. Wenn wir immer und immer über den Krieg sprechen, ist das keine psychologische Unterstützung." Stattdessen lädt sie ab und zu die Schulpsychologin in die "Klassenstunde", die versucht, den Kindern Entspannungsübungen beizubringen. Auch da werden die Kriegserlebnisse nicht direkt thematisiert.
Das gesamte Lehrerkollegium, die Eltern und auch die Schüler haben sich bewusst für eine bewährte Überlebensstrategie entschieden: Verdrängung.
"Wer will schon ein Flüchtling sein?"
Veronika weiß schon nicht mehr, wann sie zum letzten Mal eine ihrer Freundinnen in den Arm genommen hat. "Das ist ewig her." Dabei lebt sie noch immer in Odessa. Viele Freundinnen sind in der Nachbarschaft. "Aber ich darf das Haus nur mit meinen Eltern verlassen." Vor jedem Spaziergang recherchiert die Familie, wo auf der Strecke die jeweils nächsten Schutzräume sind, in die man bei Alarm flüchten kann. Noch wird Odessa nicht oft angegriffen.
Doch wenige Seemeilen vor der Küste sind die Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte aufgereiht, die mit Raketen Ziele im ganzen Land angreifen. Dann donnern Geschosse über die Hafenstadt, lösen Alarm aus und unterbrechen den Unterricht, weil die halbe Klasse in den Keller hastet.
Seit Wochen bestimmt ein Thema die Gespräche in Veronikas Familie: fliehen oder bleiben. Veronika will bleiben. "Wer will schon ein Flüchtling sein? Mein Traum war es immer, nach Deutschland zu gehen. Aber nicht als Flüchtling, sondern als Studentin." Die geflüchteten Kinder posten auf Whatsapp oder dem in der Ukraine verbreiteten Internetdienst Viber Fotos und kleine Filmchen. Zu sehen sind Schlösser, Seen, Berge, Ausflugsschiffe, Tiergärten. In den Postings sieht die Flucht aus wie ein Traumurlaub.
Sehnsucht nach dem alten Leben und eine ungewisse Zukunft
"Wir versuchen, normal miteinander zu reden. Aber wenn wir uns am Telefon verabschieden, dann jedes Mal, als wäre es für immer", sagt Nikoleta. Auch sie will kein Flüchtling sein. "Wir leben jetzt in Athen, das ist alles." Nikoletas Vater ist Grieche und besitzt in Athen eine Wohnung. Eine Etage tiefer leben ihre Großeltern, eine höher ihr Onkel. Nikoleta hat sogar ein eigenes, rosa gestrichenes Mädchenzimmer.
Am Nachmittag sitzt die gesamte Großfamilie auf dem Balkon, streichelt abwechselnd den Pudel Bonnie und diskutiert die Gefechtslage. "Man muss sich nur die Landkarte anschauen, dann weiß man, dass Putin Odessa nicht verschonen wird", sagt Costas Panagiotidis, Nikoletas Vater. Die Millionenstadt ist die wichtigste Hafenstadt der Ukraine. Ohne Odessa ist die Wirtschaft des Landes nicht überlebensfähig. Das macht Odessa zu einem strategisch bedeutsamen Ziel für den Angreifer.

Seit über 20 Jahren ist Panagiotidis Repräsentant einer griechischen Agentur für Kapitäne und Matrosen in Odessa. Jetzt gehört es zu seinem Job, sich um die gestrandeten ukrainischen Schiffsbesatzungen zu kümmern. "Die meisten Seeleute waren bei Kriegsausbruch außer Landes. Kehren sie zurück, müssen sie in der Ukraine bleiben. Wenn nicht, stellen die Reedereien ihnen und ihren Familien eine Wohnung in Griechenland. Ich kenne niemanden, der zurückgegangen ist."
Vergangenes Wochenende ist Panagiotidis mit Nikoleta nach Patras gefahren, um Marc zu besuchen, einen Mitschüler aus der 7a. Sein Vater ist einer der Kapitäne, die das Angebot einer Wohnung in Griechenland angenommen haben. "Das war so schön, jemanden aus der Klasse zu treffen", sagt Nikoleta. "Ich vermisse mein altes Leben. Papa, was glaubst du, wann wir endlich wieder nach Hause können?" Papa zuckt mit den Schultern.
Wenn die Freundin in der Ukraine nicht sofort antwortet, überkommt Ksenia Panik
Das Warten auf das Kriegsende erinnert an das Warten auf das Ende der Pandemie. Auch die begann in einem Februar. Am Anfang waren viele überzeugt, in einer Woche sei alles vorbei. Spätestens in zwei. Keinesfalls länger als bis Ostern. Nur widerstrebend wollten die meisten wahrhaben: Das alte Leben kommt nicht mehr zurück. Viele Flüchtlinge aus der Ukraine sind mit leichtem Gepäck aufgebrochen. Sie hatten nicht geplant, lange weg zu sein. Eine Woche, maximal zwei. Keinesfalls länger als bis Ostern. Noch immer kreisen alle Gedanken um die Heimreise. Nächste Woche. Bestimmt.
Doch selbst nach einem Friedensschluss wird die Rückkehr für viele schwierig. Häuser oder Wohnungen sind zerstört. Oft leben jetzt andere Flüchtlinge im alten Heim, die man zuerst vertreiben müsste. Darüber denkt auch Costas Panagiotidis nach. "Die Leute aus Mariupol fliehen jetzt nach Odessa. Wenn der Krieg bis zum Winter dauert, sollen die dann auf der Straße schlafen, während unsere Wohnung leer steht?"
Für Nikoletas Freundin Ksenia ist die Vorstellung unerträglich, nicht wieder nach Odessa zurückzukönnen. "Dabei geht es den meisten Flüchtlingen viel schlechter als mir. Eigentlich darf ich mich gar nicht beschweren", sagt die Schülerin der 7a. Sie ist mit ihrem Vater und dessen Frau nach Hamburg geflüchtet. Oleg Boghonko, Ksenias Vater, ist Herzchirurg und hat vor ein paar Jahren in einem Hamburger Krankenhaus gearbeitet. Als Putin die Ukraine angriff, riefen ihn seine Hamburger Freunde an: "Komm!" Weil Boghonko eine chronische Krankheit hat, ließen die ukrainischen Grenzer ihn ausreisen.
Die Klasse wird immer kleiner, viele Schüler wechseln
Jeden Morgen schickt Ksenia ihrer besten Freundin in Charkiw über Whatsapp eine Sprachnachricht. "Wenn sie nicht sofort antwortet, habe ich Panik."
Trotz ihres Heimwehs hat sie inzwischen begonnen, ihre neue Umgebung wahrzunehmen. Sie hat ihre Uhr umgestellt, von ukrainischer auf deutsche Zeit. Für Flüchtlinge ist das Umstellen der Uhr ein bedeutendes Eingeständnis. Sie leben nicht mehr in ihrer alten Welt. Seit ein paar Tagen besucht Ksenia außerdem eine Schule in Hamburg. "Mein ganzes Leben hat sich auf dem Smartphone und am Computer abgespielt. Ich will auch wieder Kontakt zu echten Menschen haben."

Von einem Wechsel an eine deutsche Schule ist ihre Lehrerin, Viktoriia Maryniuk, nicht begeistert. "Die Deutschkenntnisse meiner Schüler sind nicht ausreichend, um dem Unterricht vollständig auf Deutsch zu folgen." Den Eltern werde ein zusätzlicher Deutschkurs für die Kinder versprochen. "Aber oft klappt das erst im Juni. Da wäre es viel besser, sie beenden das Schuljahr an unserem Gymnasium." Trotzdem muss die engagierte Lehrerin mit ansehen, wie ihre Klasse Schülerin um Schüler kleiner wird, denn auch in Polen, Österreich und Rumänien versuchen die Bildungssysteme, die Flüchtlingskinder in die eigenen Schulen zu integrieren.
"Morgens hat Mama mich geweckt: Pack deine Sachen, der Krieg hat begonnen!"
"Ich wäre froh, wenn Artem endlich die Schule in Dortmund besuchen könnte. Aber seit Wochen werden wir vertröstet", sagt Alisa Gromowa. Sie ist 21, studiert in Dortmund Informatik und ist die Schwester von Artem aus der 7a. Ihre und Artems Eltern können Odessa nicht verlassen, weil die Großeltern gepflegt werden müssen.
Eigentlich haben sie eine 24-Stunden-Betreuung aus mehreren Pflegerinnen organisiert. Aber werden die auch in Odessa bleiben, wenn sie selbst bedroht sind? Eine Pflegerin ist bereits geflüchtet. Um wenigstens den Sohn in Sicherheit zu bringen, hatte die Familie eine Woche vor Kriegsbeginn entschieden, dass Artem zu seiner Schwester nach Dortmund zieht.

"Morgens um sechs hat Mama mich geweckt: Pack deine Sachen, der Krieg hat begonnen!" Mit vereinten Kräften zwangen sie "Koti", Artems Katze, in den Transportkäfig. "Mama war so aufgeregt, dass sie ihre Reisetasche vergessen und stattdessen eine Kiste Orangen eingepackt hat. Orangen!" Der Anfang der Reise war für den Zwölfjährigen noch ein Abenteuer. Neben der Autobahn brannten Häuser, Raketen zischten durch den Himmel. An der Grenze zu Rumänien kamen sie für eine Woche bei Freunden unter und warteten.
Auf Alisa. Die flog mit Markus, ihrem deutschen Freund, nach Rumänien, mietete sich ein Auto und fuhr von der anderen Seite an die rumänisch-ukrainische Grenze. Artems Mutter brachte ihren Sohn zu Fuß über die Grenze.
Von der Schwester zur Mutter
Artem wischt über sein Smartphone. Routiniert navigiert er zu einem Foto, das er sich immer wieder anschaut. Es zeigt seinen Vater hinter dem Steuer seines Toyota Camry, wenige Minuten vor dem Abschied. "Das ist das letzte Bild, dass ich von Papa …" Weiter kommt er nicht. Artem ist ein tapferer Kämpfer, aber den Kampf gegen seine Tränen kann er nicht gewinnen. Alisa nimmt ihn in die Arme und weint mit. Zusammen versuchen sie, mit lautem Lachen gegen die Tränen anzukämpfen. Das haben sie in den vergangenen Wochen oft gemacht.
Nach zwei Monaten Flucht wird Artems Bindung zu seinen Mitschülern allmählich schwächer. Zwar spielt er weiter online mit ihnen auf der Spieleplattform Discord. Aber viel seltener als früher. Immer wieder schwänzt er auch den Onlineschulunterricht.
"Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll", sagt seine Schwester Alisa. "Ich war noch nie Mutter. Ich bin 21 und habe plötzlich einen zwölfjährigen Sohn." Inzwischen hat das Dortmunder Jugendamt ihr das Sorgerecht für ihren Bruder übertragen. Das Studium und ihr Freund Markus kommen jetzt nur noch an zweiter Stelle. Priorität hat Artem.
Nachtrag eins: Am orthodoxen Ostersamstag hat Putins Armee Odessa heftig angegriffen. Alle Hoffnung, der schönsten Stadt der Ukraine werde das Schicksal von Charkiw oder Mariupol erspart bleiben, wirken nun naiv. Den geflüchteten Schülern der 7a ist der Rückweg abgeschnitten.
Nachtrag zwei: Veronika ist mit ihrer Mutter in Moldau. Nun ist sie das, was sie auf keinen Fall sein wollte: ein Flüchtling. "Am Wochenende werden sich weitere Familien auf den Weg machen", sagt Viktoriia Maryniuk, die Klassenlehrerin der 7a. "Bald ist niemand mehr da."