Original-Artikel aus stern 20/1983 In eigener Sache

Der Artikel, in dem stern-Herausgeber Henri Nannen schreibt, dass die Hitler-Tagebücher eine Fälschung sind.
Das Originallayout des Artikels, in dem stern-Herausgeber Henri Nannen schreibt, dass die Hitler-Tagebücher höchstwahrscheinlich eine Fälschung sind. (Erschienen in stern 20/1983)
Anmerkung der Redaktion: Der stern veröffentlichte am 25. April 1983 die angeblichen Tagebücher von Adolf Hitler, die sich wenige Tage später, am 6. Mai 1983, als Fälschung herausstellten. Bei diesen Artikel handelt es sich um das Original-Editorial von stern-Herausgeber Henri Nannen aus stern 20/1983 (erschienen am 11. Mai 1983), in dem er zugibt, dass es sich bei den Tagebüchern um Fälschungen handelt

Lieber Sternleser!

  Das Bundesarchiv in Koblenz hat eine Anzahl der Bände, die der STERN als "Tagebücher Adolf Hitlers" abzudrucken begann, nach einer vom STERN veranlaßten Prüfung zu Fälschungen erklärt. Auch wenn die Untersuchung weiterer Bände in der Schweiz und in den USA noch nicht abgeschlossen ist, muß aus dem Koblenzer Urteil gefolgert werden, daß es sich bei dem gesamten Fund um eine mit teils eindeutig echten, teils ebenfalls zweifelhaften Dokumenten angereicherte Fälscherarbeit handelt.

  Die Chefredakteure des STERN Peter Koch und Felix Schmidt haben inzwischen ihren Rücktritt erklärt. Ich habe ihnen zu danken für eine langjährige gute und freundschaftliche Zusammenarbeit. Daß meinen Mitarbeitern Fahrlässigkeit in der Darstellung der Geschichte des Dritten Reichs vorzuwerfen wäre, kann nur jemand behaupten, der die kommentierende Einbettung der Zitate in die historischen Zusammenhänge nicht wahrgenommen hat.

  Denn in einem Punkt zumindest haben auch die dem Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann unterstellten Koblenzer Archivare vorschnell geurteilt: so plump und einfach als Fälschung zu durchschauen waren die 60 Bände nicht, sonst hätte es den wochenlangen Streit der Experten und Historiker über die Tagebücher wohl nicht gegeben. Daß Sachverständige vom STERN getäuscht oder falsch zitiert worden wären, ist barer Unsinn.

  Eine kompliziertere Sache ist der Fall des Reporters Gerd Heidemann. Dieser Mann, der seine Fähigkeit zum Aufspüren und Recherchieren viele Male unter Beweis gestellt hat und dessen Aufklärung des Absturzes der "Führermaschine" bei Börnersdorf unbestritten ist. wurde offenbar ein Opfer seiner journalistischen Besessenheit.

  Inzwischen besteht der dringende Verdacht. daß Heidemann die STERN-Redaktion im weiteren Verlauf seiner Recherche bewußt irregeführt hat. Die Geschichte dieser Recherche wird geschrieben werden, sobald sie restlos aufgeklärt ist. Um das zu beschleunigen, habe ich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Ich weiß. welche Verantwortung ich gegenüber einem Kollegen damit auf mich nehme, aber die Verantwortung des STERN gegenüber seinen Lesern wiegt schwerer. Hier darf nichts vertuscht und nichts verschwiegen werden. Bei aller Schwere des Verdachts hat auch Heidemann Anspruch auf den Rechtsgrundsatz: solange ihm Schuld nicht nachgewiesen ist. hat er als unschuldig zu gelten.

  In der STERN-Redaktion war mit den "Tagebüchern" nur ein kleines Arbeitsteam befaßt. Aus Gründen strengster Geheimhaltung waren andere Ressorts nicht informiert. Daß es in einer Redaktion. die ihre Glaubwürdigkeit als höchstes Gut ansieht, deshalb Zorn und Empörung Begehen hat. werde ich auf mich nehmen müssen.

  Die Schadenfreude und der Hohn allerdings, mit denen Besserwisser, Neider und Gegner den STERN überschütten, treffen mich nicht. Denn wer austeilt, muß auch einstecken können.

  Gegen die dem STERN vorgehaltene Verdächtigung, die Tagebücher stammten aus rechtsextremistischen Quellen, spricht allein der Inhalt. Denn der Hitler der "Tagebücher" ist kein weißgewaschener oder harmloser Geselle. Neonazis hätten an ihm keine Freude gehabt.

  Dennoch: dem STERN ist eine Wunde geschlagen worden, die noch lange schmerzen wird. Wir trösten uns nicht mit der Feststellung, daß dies in 35 Jahren der erste Fall dieser Art ist. Wir trösten uns auch nicht damit, daß andere Zeitungen — darunter Weltblätter wie "Life" und "Washington Post" — raffinierten Fälschungen aufgesessen sind.

  Aber es möge uns doch niemand für so dumm halten, daß der STERN eine vorübergehende Auflagensteigerung angestrebt und dabei fahrlässig das Risiko des Rückschlags in Kauf genommen hätte. Wer glaubt, es lohne sich, seine Leser für dumm zu verkaufen, der versteht nichts vom journalistischen Geschäft.

  Über den Fortgang unserer Ermittlungen werden wir Sie unverzüglich informieren.

  Herzlich Ihr

  HENRI NANNEN