Es beginnt meist harmlos: mal ein Kater, mal verspätet ins Büro. Plötzlich aber ist die Sucht da, und mit ihr gerät oft auch der Partner in einen verhängnisvollen Strudel. Der letzte Teil der stern-Serie beschreibt, wie Sie sich und dem Abhängigen helfen können. Und wie Sie damit umgehen, wenn andere, schlimmste Krankheiten Ihre Beziehung zu erdrücken scheinen
Komm doch, bitte, bitte, komm doch", fleht Katharina. "Fünf Minuten", sagt Karl und gießt sich noch einmal nach. Bier ins Weinglas. Vorher hat er billigen Mosel getrunken, davor teuren Bordeaux. Zwischendurch ein Gläschen Weinbrand, danach noch eins. "Auf einem Bein kann man nicht stehen", hat er gesagt und gelacht. Katharinas Magen krampfte vor Wut. "Es ist spät, du musst morgen früh aufstehen und zur Arbeit", brüllt sie. Als sie im Bett liegt, hört sie Flaschen klirren. "Hoffentlich verletzt er sich nicht", denkt sie. Und gleichzeitig: "Was mache ich hier? Wieso haue ich nicht einfach ab?" Am nächsten Morgen stinkt das Wohnzimmer wie eine Kneipe. Karl liegt auf dem Teppich und schläft seinen Rausch aus. Wie so oft schon in den vergangenen Monaten.
Norbert & Christel
Seit 28 Jahren ist der kaufmännische Angestellte Norbert, 50, mit Christel, 46, verheiratet. Anfang der 90er glitt die Angestellte in die Alkoholabhängigkeit, seit einer Therapie ist sie so genannte trockene Alkoholikerin Norbert: "Jahrelang wollte ich einfach nicht wahrhaben, dass der Suff meine kleine Familienidylle bedroht. Wenn es abends nach Weinbrand roch, habe ich mir eingeredet, Christel könne das alles noch steuern. Schließlich ging sie morgens doch immer zur Arbeit, dann könne es doch nicht so schlimm sein, sagte ich mir. Die Trinkerei begann nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters. Sie tat mir so leid, auch deshalb habe ich nichts gesagt. An Trennung habe ich niemals gedacht." - Christel: "Ich habe mich zur Therapie entschlossen, als ich mich selbst nicht mehr ertragen konnte. Alkoholismus ist ein Full-Time-Job, da bleibt keine Zeit mehr für andere. Ich war eine so genannte Bettkantentrinkerin. Tagsüber, während der Arbeit, brauchte ich keinen Alkohol, abends schüttete ich zum Schluss locker zwei Flaschen Weinbrand in mich hinein."
Vier lange Jahre kämpfte die 43-jährige Katharina S. verzweifelt um ihren Traum von Zweisamkeit. Ihr Mann Karl ist chronisch krank, er ist Alkoholiker. 1,6 Millionen Frauen und Männer sind nach Schätzungen der "Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen" abhängig, weitere 2,7 Millionen stark gefährdet. Besonders häufig erkranken Menschen, deren Eltern bereits süchtig waren.
Karl, 44, kommt nicht aus einer Trinkerfamilie. Er ist Krankenpfleger, und die Schicksale seiner Patienten ließen ihn auch zu Hause nicht los. Um abschalten zu können, trank er nach der Schicht ein paar Bier. Dass die Kästen immer schneller leer wurden, verdrängte seine Frau. "Jeder trinkt mal einen über den Durst", dachte sie. Er habe ja eine Menge Stress im Beruf. Wenn Karl morgens wegen "der paar Pils" mal nicht aus dem Bett kam, log Katharina seinem Chef vor, er habe Fieber. Doch sie erwischte sich dabei, dass sie auf Partys heimlich beobachtete, wie viel ihr Mann trank. Es war ihr peinlich, dass er vor Freunden lallte. Wenn sie das Thema später ansprach, sagte er lediglich, das wäre doch alles kein Problem, er wollte doch nur ein bisschen Spaß haben.
Heimlich war er vom Bier längst auf Weinbrand umgestiegen. Zu Hause, bei seiner Frau, trank er zunächst nur ein Gläschen. Doch immer häufiger kam er mit merkwürdig starrem Blick nach Hause. Im Keller, versteckt hinter Gerümpel, fand Katharina Schnapsflaschen. Er stritt ab, die Flaschen versteckt zu haben. Der Geruch, der ihn umgab, enttarnte seine Lügen.
Gerry & Gundula
Bei Tonassistent Gerry Streberg, 38, wurde 1993 Leukämie diagnostiziert. Mit Freundin Gundula, 37, war er gerade zusammengezogen. Die beiden standen die schwere Zeit durch. Sohn Max ist acht Jahre alt Gerry: "Der Krebs war wie ein Absturz, und Gundula war mein Fallschirm. Nach der Knochenmark-Transplantation musste ich noch sechs Jahre starke Medikamente nehmen. Das Kortison schwemmte mich auf. Ich ekelte mich vor meinem Körper. Im Bett lief lange Zeit nichts. Immer wieder fragte ich meine Frau, warum sie noch bei mir bleibt. Ich solle keinen Blödsinn reden, hat sie dann nur gesagt. Es war wichtig für mich, dass jemand da war, der einfach nur stur nach vorne schaute." - Gundula: "Zuerst war ich am Boden zerstört, dann habe ich nur noch gedacht, das packen wir schon. Als ich einige Monate nach der Diagnose schwanger wurde, entschied ich mich sofort für das Kind. Wenn Gerry doch sterben sollte, behalte ich wenigstens einen Teil von ihm, dachte ich insgeheim."
Hundertmal hat Katharina seitdem mit Scheidung gedroht, falls er die Trinkerei nicht sein lasse. Einmal sogar mit Selbstmord, doch die Saufgelage wurden immer heftiger. Irgendwann trank Karl zwei Flaschen Cognac pro Abend. Wenn er seiner Frau dann im Vollrausch erklärte, sie habe doch keine Ahnung von der Welt, nannte er das "philosophieren".
Katharina blieb bei ihm trotz des inzwischen täglichen Familienkriegs. Sie dürfe ihn doch nicht im Stich lassen, nur weil er trinke, redete sie sich ein. Ihre Gedanken kreisten um die Launen und Befindlichkeiten ihres Mannes. Wie kann ich ihm helfen? Was kann ich tun, damit seine Kollegen und unsere Freunde nichts merken? Hinzu kam diese entsetzliche Angst. Angst davor, dass er betrunken einen Autounfall bauen könnte. Angst, dass er besoffen mit brennender Zigarette einschlafen würde. Und dass er für eine Zechtour das letzte Geld vom gemeinsamen Konto abheben könnte.
Ohne es zu merken, war Katharina co-abhängig geworden: süchtig danach, gebraucht zu werden. "Das kann zerstörerischer wirken als die Drogensucht", sagt Psychotherapeut Helmut Kolitzus. Viele Co-Abhängige leiden unter Depressionen oder psychosomatischen Problemen wie Migräne oder Schlafstörungen. Auch Selbstmordgedanken sind nicht selten, denn die gesamte Lebensenergie wird für den drogenabhängigen Partner verbraucht. "Taifun-Syndrom" nennt Kolitzus dieses Geschehen: Der Gesunde rotiert und bemüht sich, der Süchtige jedoch sitzt ruhig im Zentrum der Aufregung und trinkt munter weiter. Die ständigen Streitereien zerstören die Vertrauensbasis, Kommunikation und Zärtlichkeit sterben. Denn wer den Partner von Drogen abbringen will, wird zwangsläufig als Gegner erlebt, so Suchtexpertin Ingrid Arenz-Greiving. Es entsteht eine Spirale der Hoffnungslosigkeit. Auf Bitten, Appelle und Drohungen folgen Kränkungen, Versprechungen und Enttäuschungen. Eine Hölle aus Verdrängung, Schuldgefühlen und Lügen.
"Hilfe durch Nicht-Hilfe ist die einzige Chance", sagt Arenz-Greiving. Dem Süchtigen müsse die Verantwortung für sein Leben zurückgegeben werden, sonst werde alles nur noch schlimmer. Denn die Unterstützung der Angehörigen ermögliche ihm erst, die Krankheit zu leugnen und sich hinter der Lüge zu verstecken, im Alltag doch noch zurechtzukommen.
Als Karl ihr im Suff mit der Faust ins Gesicht schlug, begriff Katharina, dass sie machtlos gegen den Alkohol war. "Jetzt ist Schluss, endgültig", entschied sie. Um den Kopf frei zu bekommen, schrieb sie die Erlebnisse der letzten Jahre in eine Kladde. Die fürchterlichen Erinnerungen blockierten sie danach nicht mehr. Sie hatte wieder Kraft nachzudenken. Mit Hilfe eines Therapeuten gelang es ihr, den Drang zum Helfen abzuschalten.
Katharina hörte auf, die Flaschen ihres Mannes wegzuräumen, ihn beim Chef zu entschuldigen, die Rate für sein Auto zu bezahlen, weil er das Geld versoffen hatte. Sie ging wieder mit alten Freunden ins Kino oder Theater, spielte wie früher im Badminton-Verein.
Annette Rexrodt von Fircks & Jo von Fircks
Diplomdolmetscherin Annette Rexrodt von Fircks, 41, war schon Mutter von drei kleinen Kindern, als sie im März 1997 die Diagnose Brustkrebs erhielt. Die Ärzte gaben ihr nicht mehr viel Zeit zu leben. Ingenieur Jo von Fircks, 61, wollte die Krankheit seiner Frau lange Zeit nicht wahrhaben Annette Rexrodt von Fircks: "In der ersten Zeit hat mich mein Mann allein gelassen mit der Krankheit. Er hat sich abgeschottet, um in der Arbeit und für die Kinder funktionieren zu können. Wir haben uns in dieser Zeit regelrecht entfremdet. Er hatte keine Ahnung mehr von dem, was in meinem Kopf vorging. Er bemerkte deshalb auch nicht, wie ich langsam wieder Mut fasste. Und ich ahnte nicht, wie verzweifelt er war. Meine Einsamkeit habe ich durch eine Reise ins eigene Ich bekämpft. Ich habe mich besser kennen gelernt und erfahren, dass ich mehr den Moment leben muss. Eine gute Freundin half mir dabei. Wenn der Krebs wieder kommen sollte, möchte ich nicht mehr alleine bleiben, dann soll mein Mann bei mir sein, ganz nahe."
"Ich verlange, dass du dir von einem Fachmann helfen lässt, sonst lasse ich mich scheiden", sagte sie ihrem Mann. Karl begriff, dass sie es diesmal wirklich ernst meinte. "Das war wie ein Schock", erinnert er sich. Er habe sich gefühlt, als ob ein grelles Licht auf seinen Suff leuchtete, den er doch so gern weiter versteckt hätte. "Ich hatte plötzlich panische Angst, mich tot zu saufen", erinnert er sich. Zudem hatte ihn kurz zuvor die Polizei mit 1,9 Promille am Steuer erwischt. Der Führerschein war weg, und auch sein Chef hatte das Alkoholproblem bemerkt, drohte mit Kündigung. "Ich war komplett am Boden", erinnert sich Karl. "Jetzt oder nie", habe er gedacht: "Sonst gehst du vor die Hunde, sonst verlierst du alles, was dir einmal wichtig war."
Karl machte eine Therapie, drei Jahre ist das her. Seitdem ist er trocken. "Wenn es wieder losgeht, bin ich weg", hat Katharina gesagt: "Ich möchte mit dir leben, nicht zusammen mit dir untergehen."
Die Abhängigkeit von Drogen
ist wie eine Dritte, die sich in eine Beziehung drängt und sie bis aufs Äußerste spannt und belastet. Unerbeten, oft unerbittlich. Ähnlich fordernd für eine Partnerschaft sind nur lebensbedrohende Leiden wie Krebs. Während bei der Sucht aber das Loslassen des Gesunden erforderlich ist, brauchen Schwerkranke die Nähe des Liebsten.
Doch die bekommen sie meist nicht, wie Annette von Fircks leidvoll erfahren musste. Die 35-jährige Düsseldorferin war zufrieden mit ihrem Leben, als sie im März 1998 zur Kur an die Ostsee fuhr. Sie lebte glücklich verheiratet, hatte drei süße Kinder; sieben, fünf und drei Jahre alt. Und seit ein paar Monaten auch einen gut bezahlten Halbtagsjob. Nach sieben Jahren zwischen Windeln, Küche und Kindergeschrei endlich zurück ins Arbeitsleben: Das hatte sich die Dolmetscherin lange schon gewünscht. Jetzt wollte sie zwei Wochen ausspannen. Im Kurbad ihre leicht entzündeten Hüftgelenke pflegen lassen.
"Komm gut erholt zurück", sagte ihr Mann Jo zum Abschied. Der Diplomingenieur hatte Urlaub genommen, um die Kinder versorgen zu können. Annette von Fircks freute sich auf die Erholung an der Küste. Dort aber wurde ihr Leben völlig aus der Bahn geworfen. Bei einem heißen Entspannungsbad spürte die junge Frau einen stechenden Schmerz in der rechten Brust. Als sie das Gewebe ängstlich abtastete und einen Knoten fühlte, geriet sie in Panik: "Das Ding ist ja groß wie ein Tennisball." Der Kurarzt verwies sie an einen Spezialisten. Dessen Einschätzung nach Kernspintomografie und Ultraschall war niederschmetternd: Tumor. So schnell wie möglich sei eine Probe zu entnehmen, um die Art des Krebses festzustellen.
Axel & Anja
Der Ergotherapeut Axel, 31, war kokainabhängig. Mit seiner Frau Anja, 33, hat er zwei Kinder, Sophie und Hannah. Erst als Sophie geboren wurde, versuchte er ernsthaft, von der Droge loszukommen Axel: "Die Geburt war ein Kick, den keine Droge toppen kann. Für meine Tochter habe ich aufgehört mit dem Zeugs. Dass meine Frau vorher jahrelang auf mich eingeredet, mich angefleht oder mir Vorwürfe gemacht hat, interessierte mich nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Acht Gramm habe ich mal an einem Tag aufgekocht und gespritzt." - Anja: "Ich war zwar wütend und verzweifelt, vor allem aber hatte ich Angst, dass er den nächsten Rausch nicht überlebt. Er war so hilflos, und ich fühlte mich verantwortlich. In einer Selbsthilfegruppe habe ich gelernt, härter zu ihm zu sein, ihm die Verantwortung für sein Leben zurückzugeben. Noch einen Rückfall werde ich nicht dulden, schon wegen der Kinder. Dann schmeiße ich ihn raus. Zumindest für eine längere Zeit. Ich weiß, dass ich mit einer tickenden Zeitbombe lebe. Aber das Ticken wird immer leiser."
"Dann lass dich in eine Klinik hier vor Ort einliefern", riet ihr Mann, als sie ihn nach der Diagnose anrief. Kein liebes Wort war zu hören, kein Mitgefühl, keine Trauer zu spüren. Annette von Fircks wollte weinen, konnte es nicht, wollte schreien, die Stimme versagte. "Verdammt, ich habe Krebs, komm her", sagte sie - zu sich selbst. Den Schock, den die Reaktion ihres Mannes auslöste, ließ sie sich nicht anmerken. Sie dürfe ihn mit ihrer Verzweiflung nicht belasten, dachte sie.
Jo von Fircks war das Recht.
Der 55-Jährige gehört nicht zu den Menschen, die ihre Emotionen offen zeigen. Jetzt sei für Gefühle schon gar keine Zeit, redete er sich ein. Er wollte nur noch "funktionieren", um die Kinder zu versorgen und weiter Geld für die Familie zu verdienen. Wenn er sich zu sehr mit den Problemen seiner Frau beschäftigt, fürchtete er, könne er das nicht mehr. Männer würden in derartigen Krisen meist zu "emotionaler Zurückhaltung" neigen, sagt der Freiburger Psychotherapeut Hans Jellouschek. Dies habe nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. "Sie schalten instinktiv auf Erhaltung der äußeren Stabilität, wollen handlungsfähig bleiben, selbst da, wo es nichts zu handeln gibt." Sich auf Mitleid, Trauer und Angst einzulassen werde als zusätzlich bedrohlich, weil destabilisierend empfunden.
Frauen hingegen erleben dies meist genau umgekehrt. "Wenn sie ihre Gefühle mitteilen, versichern sie sich der Solidarität der anderen und geben sich selbst mehr Sicherheit", so Jellouschek, dessen Frau 1998 an Lymphknotenkrebs gestorben ist. 16 Jahre hat er sie in ihrer Krankheit begleitet. Im ersten Jahr nach der Diagnose hat er ihre Gefühle ignoriert, war damit beschäftigt, die neu eröffnete Praxis zu organisieren. "Das war falsch, ich habe sie damals im Stich gelassen", sagt er heute.
Auch Jo von Fircks ließ seine Frau allein. Um nicht über den Krebs sprechen zu müssen, holte er sie nicht aus der Kur ab. Sie fuhr mit dem Zug von der Ostsee nach Essen. In der Uniklinik hatte sie sich telefonisch angemeldet. Als ihr Mann nachmittags ins Krankenhaus kam, wurde sie gerade untersucht. Er sprach nur kurz mit ihr. Und ging ohne Umarmung.
Am nächsten Tag schon wurde Annette von Fircks die rechte Brust amputiert. Als sie nach der Operation erwachte, hielt Jo ihre Hand. Das war das erste Mal, dass sich die beiden nach der Schreckensdiagnose berührten. Sie genoss den vorsichtigen Händedruck. Es blieb der einzige. Er wäre am liebsten gleich wieder gegangen. Er wollte nicht sehen, was nicht sein durfte. Wollte weg, Distanz schaffen zwischen sich und dieser ungeheuren Bedrohung seines Familienglücks. Die Verzweiflung darüber, dass er nicht helfen konnte, dass auch er nicht mehr weiterwusste, sollte niemand spüren. Der Chefarzt sagte ihm drei Tage später schonungslos, das werde wohl nichts mehr mit seiner Frau. Die Lymphknoten seien vom Krebs befallen, die Erkrankung weit fortgeschritten. Danach ging Jo von Fircks nicht mehr in die Klinik. Selbst nachdem seiner Frau auch die linke Brust abgenommen worden war, telefonierte er nur mit ihr. Die Krankheit machte die Eheleute zu Fremden. Als Annette von Fircks vier Wochen später nach Hause kam, hatte ihr Mann keinen Schimmer davon, was in ihr vorging. Er erwartete einen gebrochenen, todgeweihten Menschen.
Doch sie war voller Hoffnung. "Entscheiden Sie sich für das Leben", hatte eine Psychologin sie beschworen, und sie hatte es verinnerlicht. Hatte stapelweise Bücher über Krebs gelesen, Ruhe und Kraft durch Meditation und Atemtechnik gesammelt. Die Chemotherapie sei nichts Bedrohliches, vielmehr ein Freund, der ihr zur Seite stehen will, versuchte sie sich zu motivieren. Die geplante Bestrahlung sei eine wohltuende Sonne, die alle Krebszellen zerschmelzen lasse. Sie wollte innere Kräfte für die Genesung aktivieren. Ihre Gedanken und Gefühle hatte sie einer guten Freundin anvertraut, die sie fast täglich besuchte. Ihr Mann blieb außen vor.
Um einer schweren Krankheit
nicht auch noch die Partnerschaft zu opfern, bedürfe es eines "bewusst angestrebten emotionalen Bündnisses", sagt Paartherapeut Jellouschek. Eines Bekenntnisses der Sorte: "Wir halten zusammen, egal, was kommt." Der Gesunde müsse begreifen und akzeptieren, dass sich auch sein Leben grundlegend geändert hat. Die Krankheit müsse zur gemeinsamen Angelegenheit und Aufgabe werden. Gemeinsame Arztbesuche, Diskussionen über die Behandlung, Gespräche über eine eventuelle Pflege seien ein Anfang. Andernfalls entstehe schnell eine "Zwei-zu-eins-Situation": Der Kranke fühlt sich seinem Leiden hilflos ausgeliefert und vom Partner allein gelassen. "Auf Dauer führt das zur Trennung", sagt Jellouschek. Um aus der Opferrolle herauszukommen und wieder nach vorn schauen zu können, müsse ein Neuanfang gewagt werden. Entscheidend sei die Frage: Wozu fordert die Krankheit jeden Einzelnen und uns als Paar heraus?
Die Eheleute Jellouschek benutzten den Krebs als Ansporn, viele Dinge in ihrem Leben zu ändern, die sowieso geändert werden sollten. Das fing mit Kleinigkeiten an. Die beiden erlaubten sich mehr Bequemlichkeit und damit auch Genuss, was ihnen "früher" immer schwer gefallen war. Sie fuhren häufiger und länger in Urlaub und arbeiteten seltener am Wochenende. Um gemütlicher reisen zu können, leisteten sie sich eine Bahncard erster Klasse. Sie kauften gute Fahrräder, nutzten häufiger ein Taxi.
Als sie sich intensiver um sich selbst kümmerten, begannen sie auch, sich intensiver und liebevoller miteinander zu beschäftigen. Sie merkten, dass sie sich verändern mussten, um beieinander bleiben zu können. Er, der verwöhnte "Muttersohn", hatte das Versorgen und Helfen nie gelernt. Sie, die tüchtige "Vatertochter", die immer alles selbst regelte, hatte nie gelernt, Hilfe anzunehmen. Auch in der Ehe war sie bisher eindeutig der dominantere Teil gewesen.
Maha & Karl-Heinz
Die Kölner Industriekauffrau Maha, 24, lag mit verbrannter Haut zwei Monate im Koma. Ihr Vater hatte sie im Streit mit Benzin übergossen und angezündet. Ihr Ehemann Karl-Heinz Schaaf, 25, gab ihr Halt für die folgenden 25 Operationen Maha Schaaf: "Als ich aus dem Koma erwachte, dachte ich, mich schaut nie wieder ein Mann an. Doch im nächsten Moment ging schon die Tür auf, und Kalle stand vor mir. Er war einfach nur da, hat mir die Kraft gegeben, weiterzuleben. Ich weiß nicht, ob ich es ohne ihn geschafft hätte. Selbst wenn ich sterben würde vor Schmerzen, könnte er mich noch zum Lachen bringen. Seine Hilfe anzunehmen ist mir oft sehr schwer gefallen. Zuerst war es mir unangenehm, wenn er mir beim Anziehen half oder meine Verbände wechselte. Ich dachte, bei all den Narben, das muss er doch eklig finden. Ich würde ihn nicht mehr lieben, habe ich eines Tages gelogen. Habe ihn angeschrien: Hau ab. Doch er ist wie selbstverständlich geblieben. Wenn mich die Leute heute wegen meines Aussehens anglotzen, küsst er mich manchmal und fasst mir an den Hintern: Jetzt erst recht, soll das heißen."
"Ich musste auf einmal der Halt sein, den sie mir zuvor gegeben hatte", erinnert sich Jellouschek. Dies betraf zunächst auch ganz alltägliche Dinge. Er lernte kochen und brachte seiner Frau gelegentlich Essen in die Klinik, übernahm die Buchhaltung für die gemeinsame Praxis, fragte sie häufiger, wie es ihr gehe und was er tun könne. Als seine Frau begann, sich auf ihn zu verlassen, und er spürte, dass sie ihn diesmal wirklich brauchte, entwickelte sich ein immer größer werdendes Vertrauen. "Es entstand eine tiefere Zweisamkeit als je zuvor", erinnert er sich.
Damit dies gelingen konnte, wurden in schwierigen Phasen auch Freunde und Bekannte einbezogen. Anders wäre es nicht gegangen, sagt Jellouschek: "Das Wissen, es kümmert sich noch jemand, selbst wenn es sich nur um Kleinigkeiten wie ein gelegentliches Mittagessen handelt, gibt enorme Sicherheit."
Wichtig sei auch,
der Krankheit niemals die Regie über das Leben anzuvertrauen. Obwohl sie genau wussten, wie "unvernünftig" das angesichts der ungewissen Situation erscheinen mochte, bauten Jellouschek und seine Frau ein Haus. "Man darf sich nicht vorsichtig machen lassen, muss trotz allem die Zukunft planen und angehen", rät er. Besonders über ein weiterhin lebendiges Sexualleben müsse man nachdenken und reden. Die Idee, das funktioniere in einer Dauerbeziehung "von selbst", sei eine Illusion. Ganz besonders dann, wenn auch noch eine schwere Krankheit der Partnerschaft zusetzt. Um sich körperlich wieder nahe zu sein, probierten Jellouschek und seine Frau diverse Feuchtigkeitssalben und Gleitmittel aus. Denn die 37-Jährige war durch die zahlreichen Krebsmedikamente nahezu in die Wechseljahre hineinkatapultiert worden. In ihrem Wochenplan vereinbarten die beiden feste Zeiten für Erotik. "Das hört sich zunächst ziemlich bescheuert an", sagt Jellouschek. Jedoch stellte er bei sich sowie in der späteren Beratung und Therapie von Paaren mit ähnlichen Schicksalen fest: "Wenn diese Inseln der Zärtlichkeit nicht ausdrücklich vereinbart werden, wird meist der Arbeit, den Pflichten oder dem Behandlungsplan der Vorrang eingeräumt."
Um dann nicht an das Thema Sex erinnert zu werden, vermeiden die Partner oft auch alle anderen Arten von Berührungen. Wenn der Körperkontakt abnimmt, wird die emotionale Basis der Beziehung immer dünner, sagt Jellouschek. "Dies in einer Situation, in der Intimität und Nähe so nötig wie nie zuvor wären." Wichtig sei auch, dass gerade der gesunde Partner seine alten Kontakte pflege. Jellouschek wurde von seiner Frau ermutigt, allein mit Bekannten auszugehen oder mit seiner Tochter aus erster Ehe in Urlaub zu fahren.
Jo von Fircks jedoch glaubte
nach der Krebsdiagnose seiner Frau, er müsse sich aufopfern, er habe keine Zeit und kein Recht mehr auf ein eigenes Leben. Das ging lange gut, bis er nach vielen Monaten zwangsläufig keine Kraft mehr hatte. Am Liebsten würde er sich "die Kugel geben", schrie er eines Tages. Er habe keine Lust mehr, Arbeitnehmer, Putzfrau, Kindermädchen, Mamsell und Diener zu sein.
Der Wutausbruch wurde zum Wendepunkt. Annette von Fircks, bei der sich nach Operation, Chemotherapie und Bestrahlung bisher kein Tumor mehr gebildet hatte, wurde bewusst, wie einsam ihr Mann geworden war. Sie hatte sich nur noch um ihre Genesung und die Kinder gekümmert. Ihr Mann war untergegangen. Hatte nur noch funktioniert. In langen Gesprächen begann das Ehepaar wieder, eine gemeinsame Zukunft zu planen. Jo von Fircks begriff, dass er die Krankheit zu seiner Sache machen musste.
Er las die Bücher, die seine Frau gelesen hatte. "Als ich mich wieder einmischte, kamen auch Vertrautheit und Liebe zurück", erinnert er sich. Sollte der Krebs noch einmal ausbrechen, will er seine Frau mit ihren Gefühlen nicht mehr allein lassen, mit ihr Ängste und Hoffnungen teilen. Annette von Fircks hat ihren Mann ermuntert, sich wieder mehr Zeit für sich selbst zu nehmen. Er schmiedet seitdem Figuren aus Metall, hat demnächst seine erste Ausstellung. "Unser Leben hatte sich drastisch geändert, und ich musste akzeptieren, dass ein echter Neuanfang nötig war", sagt Jo von Fircks. Die beiden schafften es wieder, miteinander, nicht nebeneinander, zu leben.
Detlef Schmalenberg, Mitarbeit Christian Parth