Zu "LINDA Zervakis. Dumm, dümmer, Deutschland? Raus aus der Bildungskrise" Linda Zervakis im Interview: "Bildung darf nicht von der Postleitzahl abhängen"

  • von Elisa Eberle
Was läuft falsch an deutschen Schulen? Diese Frage stellt Linda Zervakis in ihrer neuen großen ProSieben-Reportage.
Was läuft falsch an deutschen Schulen? Diese Frage stellt Linda Zervakis in ihrer neuen großen ProSieben-Reportage.
© Joyn / Nadine Rupp
Die Mängel des deutschen Bildungssystems sind Gegenstand einer neuen ProSieben-Primetime-Reportage von Linda Zervakis. Im Interview beschreibt die ehemalige "Tagesschau"-Sprecherin, was im Ausland besser läuft, und sie erklärt, warum sie die Hoffnung dennoch nicht ganz aufgeben will.

Wie schlimm steht es um das deutsche Bildungssystem? Das ist eine der Fragen, die Linda Zervakis in ihrer neuen großen ProSieben-Reportage "LINDA Zervakis. Dumm, dümmer, Deutschland? Raus aus der Bildungskrise" (Montag, 24. November, 20.15 Uhr) umtreibt. Ausgangspunkt für das rund zweistündige Format war das Ergebnis der letzten PISA-Studie: In der internationalen Schulleistungsuntersuchung erreichte Deutschland 2022 gerade einmal den 25. Platz. Um zu sehen, wie Bildung in anderen Ländern abläuft, reiste die ehemalige "Tagesschau"-Sprecherin unter anderem nach Estland: Der baltische Staat erzielte bei PISA das beste Ergebnis innerhalb Europas. Wie sich das estnische Schulsystem vom deutschen unterscheidet, beschreibt Zervakis im Interview. Auch findet die 50-jährige Mutter zweier schulpflichtiger Kinder klare Worte zum Lehrermangel und macht sich für eine Kita-Pflicht stark.

teleschau: Um zu demonstrieren, wie weit unten das deutsche Bildungssystem in der internationalen PISA-Studie im Vergleich zu anderen Ländern steht, laufen Sie zu Beginn von "LINDA Zervakis. Dumm, dümmer, Deutschland? Raus aus der Bildungskrise" beim House Running senkrecht an der Außenfassade eines Hauses hinunter. Gibt es irgendwas, was Sie für eine ProSieben-Doku nicht tun würden?

Linda Zervakis: (lacht) Das ist sehr lustig, weil ich mir an dem Tag wirklich dachte: Eigentlich würde ich das gerne nicht machen. Aber ich hatte eine Woche zuvor schon eine Doku für ProSieben gedreht, in der ich tauchen sollte. Jetzt kann man natürlich sagen: Ach, tauchen ist doch eigentlich viel entspannter. Ich kann aber mit Kälte nicht so gut umgehen. Getaucht wurde in einem zehn Meter tiefen Gasometer. Ich hatte Heizstäbe am Rücken in meinem Tauchanzug, die Crew wollte es mir so angenehm wie möglich machen. Doch ich war nicht mal eine Minute unter Wasser, als ich durch die Kälte eine solche Schockstarre bekam, dass mir das Atmen schwerfiel. Auch beim zweiten Versuch habe ich innerhalb kürzester Zeit mit Atemnot gekämpft. Der Dreh konnte also nicht umgesetzt werden, und alle waren wahnsinnig enttäuscht. Eine Woche später erfuhr ich dann von der Idee für "Dumm, dümmer, Deutschland" und dachte mir: "Ich kann doch jetzt nicht wieder versagen!"

teleschau: Eine vertrackte Situation ...

Zervakis: Und wie! Ich habe beim Stunt an der Hauswand dann insgesamt dreimal performt und damit hoffentlich mein Versagen beim Tauchen kompensiert. Bei den ersten Aufnahmen habe ich allerdings sehr viel geflucht – die dürfen niemals veröffentlicht werden. (lacht)

Jedes Jahr machen 50.000 Jugendliche keine Schulabschluss

teleschau: "Dumm, dümmer, Deutschland" – der Titel Ihrer neuen Reportage klingt vernichtend. Wie schlimm steht es Ihrer Einschätzung nach wirklich um die Bildung hierzulande?

Zervakis: Schlimmer, als ich mir das vor den Dreharbeiten vorgestellt hätte. In anderen Ländern hat Bildung einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland. Wir ruhen uns immer noch auf der Bezeichnung "Deutschland, das Land der Dichter und Denker" aus und ignorieren die gravierenden Probleme im Bildungssystem. Kein Wunder, dass die Zahl der Privatschulen wächst. Denn viele Leute, die das nötige Geld haben, schicken ihre Kinder auf private Schulen, wenn sie an der Qualität der staatlichen zweifeln.

teleschau: Gibt es einen Ursprung des Problems?

Zervakis: Ein gravierendes Problem ist der Lehrermangel, vor allem in den sogenannten Problembezirken. Im Wettbewerb um die ohnehin zu wenigen Lehrerinnen und Lehrer ziehen die Städte oder Stadtteile mit größeren sozialen Problemen immer den Kürzeren. Wer will schon an eine Brennpunktschule?! Vor diesem Problem haben wir zu lange die Augen verschlossen. Geld löst sich nicht alle Probleme, aber in Deutschland müsste einfach mehr in den Bildungssektor investiert werden. Ansonsten dürfen wir uns nicht wundern, dass der Fachkräftemangel immer schlimmer wird, wenn jedes Jahr 50.000 Jugendliche keinen Schulabschluss machen.

"Man sollte über eine Kita-Pflicht nachdenken"

teleschau: Sie sind Jahrgang 1975, Ihr Abitur absolvierten Sie 1994. Bestanden die Probleme schon damals oder haben sie sich erst in den letzten zehn Jahren entwickelt?

Zervakis: Die Probleme sind nicht alle neu, aber sie haben sich sicherlich verschärft. Einer der Hintergründe ist der zunehmende Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund an den Schulen. Es gibt viele Schülerinnen und Schüler, die einfach kein Deutsch sprechen. Es reicht nicht, den Kindern in der ersten Klasse ein Grundverständnis für die deutsche Sprache zu vermitteln, weil sich viele Kinder in der Klasse dann langweilen. Gleichzeitig muss aber ja auf die Kinder, die noch kein Deutsch sprechen, Rücksicht genommen werden. Deshalb sollte man meiner Meinung nach über eine Kita-Pflicht nachdenken. Es geht darum, dass die Kinder schon in ganz jungen Jahren mit der deutschen Kultur in Berührung kommen und ihnen ein Basiswissen für den eigentlichen Schulstart vermittelt wird.

teleschau: Gibt es auch Aspekte, bei denen Sie sagen: Mensch, das hat sich seit meiner eigenen Schulzeit verbessert?

Zervakis: Wir haben für die Dokumentation auch Schulen besucht, die mit innovativen Konzepten erfolgreich sind. Mir ist aufgefallen, dass solche Veränderungen häufig von einzelnen Personen initiiert worden sind. Es ist in Deutschland ja nicht immer leicht, die Dinge zu verändern. Das braucht Mut. Und natürlich auch Geld, denn die Implementierung von neuen Abläufen an Schulen ist nicht umsonst zu haben.

"Bildung hat in Estland einfach einen viel höheren Stellenwert"

teleschau: Für die Doku besuchten Sie Vorzeige-Schulen, in denen alles etwas anders läuft. Können Sie ein Beispiel beschreiben?

Zervakis: In Baden-Württemberg haben wir eine Gesamtschule besucht, die in einem sozial herausfordernden Umfeld liegt. Als Konsequenz fehlt es dort an Lehrkräften. Aber die Schule hat nicht resigniert, sondern aus dem Mangel eine Stärke entwickelt. Es wird reziprokes Lernen, die sogenannte Schmetterlingspädagogik, praktiziert. Das heißt: Ältere Schüler geben den jüngeren Unterricht. Statt Lehrern gibt es Lernbegleiter. Ich habe gedacht, das kann doch gar nicht funktionieren, aber wurde dann eines Besseren belehrt. An der Schule herrscht eine erstaunliche Disziplin: Es ist völlig ruhig, die Kinder arbeiten und sind motiviert. Das Geld, das durch die fehlenden Lehrkräfte eingespart wird, kann an anderer Stelle, etwa für Online-Lehrangebote investiert werden. Ähnlich war es in Estland. Das System funktioniert so gut, dass man zumindest einzelne Elemente daraus für alle Schulen prüfen sollte.

teleschau: Wie genau sieht das andere Verständnis von Bildung in Estland aus?

Zervakis: Bildung hat in Estland einfach einen viel höheren Stellenwert. Den Menschen dort ist bewusst, dass nur über eine gute Bildung etwas erreicht werden kann, während bei uns eine gewisse Selbstzufriedenheit herrscht. Interessant fand ich, dass Estland ein Gesamtschulkonzept umsetzt. Bis zur neunten Klasse werden die Schülerinnen und Schüler nicht nach Leistung getrennt. Das hat mich überzeugt, und ich würde mir wünschen, dass der kleine Prozentsatz der auch hierzulande gut funktionierenden Gesamtschulen in den nächsten Jahren größer wird. Ein System, das schon nach vier Jahren aussortiert, hilft nicht dabei, durch die unterschiedlichen Elternhäuser bedingte Startvor- beziehungsweise -nachteile auszugleichen. Zudem lässt sich in Estland ein ganz anderes Maß an Rücksicht unter den Schülern beobachten: Hat ein Schüler oder eine Schülerin eine Prüfung nicht bestanden, wird er von den Mitschülern so lange darauf vorbereitet, bis die Prüfung bestanden wird. So was stärkt den Zusammenhalt.

teleschau: Wie genau funktioniert dieses System, bei dem die Kinder nicht bestandene Prüfungen so lange wiederholen können, bis sie sie bestanden haben?

Zervakis: Wir haben eine Klasse besucht, die von einem deutschen Lehrer unterrichtet wurde, der uns das System erklärt hat: Wenn ein Kind durch die Prüfung fällt, wird zunächst nach den Ursachen gefragt. Dabei helfen auch die Mitschüler. Unterstützend gibt es eine schulinterne Nachhilfe. Und schließlich hat das Kind die Möglichkeit, die Klassenarbeit so oft nachzuschreiben, bis es bestanden hat. Das Kind lernt also, dass die anderen warten, also versucht es, die Prüfung auch zu bestehen, und dann zieht man gemeinsam weiter. Nach der neunten Klasse wird dann entschieden: Reicht die Leistung für eine weiterführende Schulbildung? Oder sollte man doch eine Ausbildung empfehlen?

"Ich würde mir für Deutschland weniger Starrheit wünschen"

teleschau: Wie realistisch sind derlei neue Ansätze im deutschen Schulsystem?

Zervakis: Schulkonzepte, die weitgehend ohne Leistungsdruck, sprich: ohne Prüfungen arbeiten und deutlich stärker auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen, sind ja keine ganz neue Idee – ähnliche Konzepte verfolgen auch hierzulande schon seit Jahrzehnten etwa die Montessori-Schulen. Die staatlichen Schulsysteme in Deutschland haben sich bewusst gegen solche pädagogischen Konzepte entschieden. Ich halte für unwahrscheinlich, dass sich daran in absehbarer Zukunft etwas ändert. Leider. Mich haben die Ansätze der genannten Schule in Baden-Württemberg oder auch in Estland – die zurückgefahrene Rolle der Lehrkräfte, die schon erwähnte Schmetterlingsmethode beziehungsweise der Einsatz von Online-Lerninhalten im Klassenzimmer – sehr überzeugt.

teleschau: Wobei skandinavische Länder, die als Vorreiter beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht galten, ihr Angebot inzwischen wieder zurückfahren ...

Zervakis: An den estnischen Schulen, die ich besucht habe im Rahmen unserer Drehs, war der Einsatz digitaler Medien, insbesondere von Erklärvideos, ein funktionierender Baustein des Unterrichtskonzeptes. Aber natürlich müssen auch diese innovativen Unterrichtsmethoden in regelmäßigen Abständen überprüft werden. Die Zeiten ändern sich, die Lehrmethoden sollten es auch tun. Da würde ich mir für Deutschland weniger Starrheit wünschen.

"Der Lehrermangel in Deutschland kommt nicht von ungefähr"

teleschau: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich bald wirklich was verändert?

Zervakis: Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es ja so schön. Aber der Bildungssektor ist ja nicht das einzige Feld, auf dem sich bei uns zu wenig bewegt. Hier kommt nur erschwerend hinzu, dass Bildung bei uns Ländersache ist. Das macht Veränderungsprozesse im Schulsystem auch nicht schneller oder einfacher.

teleschau: Ist die allgemeine Wertschätzung der Lehrkräfte auch ein Problem?

Zervakis: Auf jeden Fall! Dass es gegen Lehrerinnen und Lehrer immer noch so viele Vorurteile gibt, ist so ungerecht wie schade. Der Lehrermangel in Deutschland kommt nicht von ungefähr. Allerdings ist dieses Problem gar nicht so leicht zu beheben. Das ist ein komplexer gesellschaftlicher Prozess, der nicht über Nacht passiert. Vorurteile entstehen schnell und verschwinden nur sehr langsam.

teleschau: Wir sprachen über viele Baustellen in Bildung. Was muss sich Ihrer Einschätzung nach nun als Erstes ändern?

Zervakis: Am dringendsten wäre aus meiner Sicht, die soziale Gerechtigkeit im Bildungsbereich zu verbessern. Bildung darf nicht von der Postleitzahl abhängen! Exakt gleiche Bildungschancen wird man vielleicht nie schaffen können, aber an diesem Ideal sollten wir zumindest mit ganzer Kraft arbeiten.

TELESCHAU

Mehr zum Thema