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"Arche"-Gründer Bernd Siggelkow Familien in Armut: "Viele Eltern sind verzweifelt, manche Mütter verzichten aufs Essen"

Ein Betreuer tröstet einen Jungen in der Arche in Berlin-Hellersdorf. Die Einrichtungen der Arche kümmern sich etwa mit Hausaufgabenhilfe besonders um Kinder aus bedürftigen Familien
Ein Betreuer tröstet einen Jungen in der Arche in Berlin-Hellersdorf. Die Einrichtungen der Arche kümmern sich etwa mit Hausaufgabenhilfe besonders um Kinder aus bedürftigen Familien
© Jens Kalaene/ / Picture Alliance
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. Bedürftige Familien sind von den Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie besonders betroffen. Viele suchen Hilfe beim Kinderhilfswerk "Die Arche". Ein Gespräch mit Seelsorger und Gründer Bernd Siggelkow.

Herr Siggelkow, wie geht es den Eltern, die ihre Kinder zu Ihnen in die Arche schicken?

Wir erleben zunehmend verzweifelte Eltern, die nicht wissen, wie sie ihre Nebenkosten oder die Einkäufe in den Griff bekommen. Manche Mütter verzichten bereits auf Essen, damit ihre Kinder genug auf den Teller bekommen. Jetzt kommen auch viele, die sich bislang geschämt haben.

Wurde das Problem Kinderarmut zu lange übersehen?

Wir hatten schon immer arme Kinder aus Familien, die nicht zurechtkamen. Als ich 1995 mit der Arche anfing, gab es offiziell noch keine Kinderarmut in Deutschland. Die kam 2001 mit dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht, in dem stand, wir hätten 1,2 Millionen Kinder in finanzieller Armut. Jetzt, nach 21 Jahren, hat sich die Zahl der armen Kinder und Jugendlichen mehr als verdoppelt.

Bernd Siggelkow wurde 1964 in Hamburg–St. Pauli geboren und wuchs ohne Mutter auf. Er ist ausgebildeter Theologe und war mehrere Jahre als Jugendpastor tätig. 1995 gründete er in Berlin-Hellersdorf "Die Arche". An 28 Standorten bietet das christliche Kinder- und Jugendwerk rund 4500 Kindern und Jugendlichen Mittagessen, Freizeitangebote und Hausaufgabenhilfe. Die Arche gewährt Kindern und Familien materielle Hilfen, zum Beispiel bei Lebensmitteln, Schulmaterialien und mit Kleiderkammern.  
Bernd Siggelkow wurde 1964 in Hamburg–St. Pauli geboren und wuchs ohne Mutter auf. Er ist ausgebildeter Theologe und war mehrere Jahre als Jugendpastor tätig. 1995 gründete er in Berlin-Hellersdorf "Die Arche". An 28 Standorten bietet das christliche Kinder- und Jugendwerk rund 4500 Kindern und Jugendlichen Mittagessen, Freizeitangebote und Hausaufgabenhilfe. Die Arche gewährt Kindern und Familien materielle Hilfen, zum Beispiel bei Lebensmitteln, Schulmaterialien und mit Kleiderkammern.  

© Wolfgang Kumm/ / Picture Alliance

Hat sich unsere Vorstellung von Armut in dieser Zeit verändert?

Früher dachte man: Arme Kinder sind schlechter gekleidet, schlechter ernährt, schlechter gebildet. Aber durch den Medienkonsum der Kinder hat sich die Situation in den letzten 15 Jahren verschärft, weil nun viel mehr verglichen wird. Wer nicht das richtige Handy hat, die angesagten Marken-Schuhe trägt, wird gemobbt. Das macht die Armut in unserem Land immer schwieriger. Also versuchen die Kinder, sie zu kaschieren. Sie sehen im Fernsehen, wie es ihnen gut gehen könnte. Sie sehen in ihrer Klasse Kinder, die in den Urlaub fahren, die genug Pausenbrot mithaben, die zur Nachhilfe gehen können.

Wie kaschieren Kinder den Mangel?

Jeans und T-Shirt ist die Kleidung für arm und reich. Über Second-Hand-Länden, die Arche und andere Kleiderkammern bekommt man auch Markenklamotten, die gerade diese Kinder zuerst auswählen. Sie wünschen sich schon mit sechs Jahren nicht mehr Spielsachen zum Geburtstag oder zu Weihnachten, sondern Markenklamotten oder ein Handy. Sie identifizieren sich vielmehr mit Markenkleidung, dem viel zu großen Fernseher, ihrem Smartphone als reiche Kinder. Das macht etwas mit diesen Kindern. Sie spielen nicht mehr. Sie schließen viel zu früh mit der Schule ab, viele fangen früh an, Alkohol zu trinken, auch wenn sie sich den nicht leisten können. Diese Kinder denken nicht an morgen, sie versuchen aus dem Heute alles rauszuholen.

Was macht das mit der Beziehung zu den Eltern, wenn ein Kind früh merkt, Mama und Papa haben kein Geld?

Diese Kinder schützen ihre Eltern mehr als ein Akademikerkind. Das ist immer wieder erstaunlich, wie schnell ein Kind einem anderen aufs Maul haut, wenn es die Ehre seiner Eltern angriffen fühlt. Ich habe viele verwahrloste Wohnungen gesehen, wo ich gedacht habe: Wie kann dieses Kind nach Hause gehen? Aber sie schützen, sie lieben ihr Elternhaus, sie haben kein anderes.

Die offiziellen Zahlen gehen von 2,8 Millionen Kinder in Armut aus. Ist die Dunkelziffer womöglich noch höher?

Es gibt viele Aufstocker, die weniger haben als ein Hartz-IV-Empfänger, aber nicht darüber reden, weil sie Angst haben aufzufallen. Diesen Kindern geht es oftmals besser, weil ihre Eltern alles versuchen, um ihren Kindern ein unauffälliges Leben zu ermöglichen. Aber sie sind ebenso von Armut betroffen.

Warum haben Sie 1995 die Arche gegründet?

Ich wuchs selbst in Armut und ohne Liebe auf. Mit 16 traf ich die Entscheidung, Christ zu werden und etwas für Kinder zu tun. Ich war Jugendreferent für viele Kirchen in Deutschland. So kam ich nach Marzahn-Hellersdorf, einem der kinderreichsten Bezirke von Europa, und war überrascht, wie viele Kinder perspektivlos abgehangen haben. Als ich einen 13-Jährigen 1991 gefragt habe, was er den ganzen Tag mache, hat der zu mir gesagt: "Ich gehe hoch zu meiner Freundin poppen." Kleine Kinder haben auf Spielplätzen gespielt, ohne dass ein Erwachsener da war. Ich bin auf die Spielplätze gegangen, um mit den Kindern zu spielen und zu provozieren.

Warum wollten Sie provozieren?

Ich wollte den Eltern vor Augen führen, dass sie sich um ihre Kinder kümmern sollten. Aber kein Erwachsener kam und fragte: "Was machst du da?" Im Gegenteil, die Kinder klingelten an meiner Tür und fragten: "Bist du Bernd? Wir haben gehört, du gehst auf die Spielplätze, wir wollten dich abholen." Und dann war da ein sechsjähriges Mädchen, das mich fragte: "Bernd, willst du mein Papa sein?”

Wie haben Sie reagiert?

Ich war total überfordert. Wenn Eltern nicht genug Ressourcen haben, geben sie sich häufig selbst auf. Und damit geben sie auch ihre Kinder auf. Dann spielen emotionale und finanzielle Armut so zusammen, dass die Kinder psychisch und seelisch auf der Strecke bleiben.

Gemeinsam gegen Kinderarmut

Die Arche ist ein christliches Kinder- und Jugendwerk. Missionieren Sie?

Wir sind weder kirchlich noch missionarisch. Würde ich unseren Kindern sagen: "Du musst an Gott glauben!", würden sie mir den Mittelfinger zeigen und sagen: "Nee, ich muss gar nix!" Und sie haben vollkommen recht. Aber die Kinder sehen an uns, dass wir an sie glauben, dass wir sie wertschätzen und weiterbringen – und sie sehen dann vielleicht auch den Glauben, der hinter vielen unserer Mitarbeiter steht. Es ist bei uns keine Voraussetzung, christlich zu sein oder in der Kirche, aber wir haben eine besondere Philosophie: den Menschen so zu nehmen wie er ist, ihn zu unterstützen, ihn zu Toleranz und zum Selbstwertgefühl zu erziehen.

Sie haben ermöglicht, dass wir mit Kindern sprechen und sie fotografieren konnten. Warum?

Blanke Zahlen verstehen wir nicht, wir verstehen nur ein Bild. Und ich hoffe immer, dass dieses Bild hängen bleibt. In der "Bild" gab es mal eine Geschichte auf der Titelseite über einen Hund, dem man die Ohren abgeschnitten hatte. 3500 Menschen haben sich gemeldet und wollten diesen Hund haben. Unsere Tierheime sind voll mit Hunden, aber für die hat sich keiner interessiert, nur für diesen verstümmelten Hund. Wenn wir der Not ein Gesicht geben, dann schauen die Menschen eher hin. Natürlich ist es schwierig, ein Kind vor die Kamera zu stellen. Man muss da sehr respektvoll und feinfühlig sein. Mittlerweile gibt es aber viele Familien, die sagen: "Es muss darüber berichtet werden, wir wollen an die Öffentlichkeit!"

Was sollte die Politik ändern?

Viele unserer Familien fühlen sich vergessen. Da kann man noch so häufig Veränderungen ankündigen, Entlastungspakte für die nächsten Monate beispielsweise. Wenn nicht heute etwas verändert wird, sondern die Politiker im nächsten Jahr über ein Bürgergeld nachdenken und vielleicht in zwei Jahren über eine Kindergrundsicherung, bringt das den Menschen heute nichts. Es heißt immer: Kinder sind die Zukunft. Dabei sollte es heißen: Kinder sind die Gegenwart. Ein Kind, das heute ohne Frühstück in die Schule geht, wird sich nicht konzentrieren können. Das Ergebnis sieht man ein halbes Jahr später, wenn es ein schlechtes Zeugnis bekommt. Das heißt, wenn es mir heute nicht gelingt, etwas zu verändern, werde ich morgen ein totes Kind finden.

Glauben Sie im Ernst, dass Kinder in Deutschland verhungern werden?

Ja, das kann passieren, wenn seine Eltern sich selbst aufgegeben haben und nicht mehr für ihr Kind sorgen können.

Was müsste denn heute passieren?

Die Bundesregierung müsste einen Deckel auf die Preissteigerung bei Lebensmitteln setzen. Warum wird nicht die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel für sechs Monate ausgesetzt? Die Politik müsste sofort die Hartz-IV-Sätze für Kinder erhöhen. Es kann nicht sein, dass ein Kind 3,50 Euro am Tag zur Verfügung hat, damit kann man es nicht gesund ernähren. Alle Maßnahmen, die es gibt, müssen dem Kind zugute kommen. Das Bildungs- und Teilhabe-Paket und all die anderen Pakete, um Löcher zu stopfen, kommen bei den Eltern gar nicht an.

Der stern hat 2005 zum ersten Mal über die Arche berichtet, seitdem spenden Leserinnen und Leser für das Kinderhilfswerk.

Hätten wir die vielen Spender und Spenderinnen nicht an unserer Seite, würden heute viel mehr Menschen auf der Strecke bleiben. Wenn wir solche Partner an unserer Seite haben, dann gewinnen wir nicht nur Menschen, die uns Geld geben, sondern ihr Herz sprechen lassen, weil sie erkannt haben: Wir müssen etwas tun für die Kinder in unserem Land.

Seit Jahrzehnten berichtet der stern über das Thema Kinderarmut, engagieren sich Leser und Leserinnen für Kinder in Not. Seit 2005 unterstützt die Stiftung stern das Kinderhilfswerk "Die Arche." Nun bitten wir Sie wieder um Hilfe! Denn die Inflation trifft vor allem die Jüngsten und Schutzlosen unserer Gesellschaft: die Kinder und Jugendlichen. Die Stiftung stern sammelt Geld für Familien, die von Armut betroffen sind – damit Organisationen wie "Die Arche" Bedürftige in Deutschland mit Lebensmitteln versorgen können und die Kinder gut durch diesen Winter kommen. Über diesen Link kommen Sie direkt zu unserem Spendenformular.

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