Original-Artikel aus stern 18/1983 Das Editorial von stern-Chefredakteur Peter Koch zu den Hitler-Tagebüchern

Das Originallayout des Editorials zum Fund der Hitler-Tagebücher, geschrieben vom damaligen stern-Chefredakteur Peter Koch
Das Originallayout des Editorials zum Fund der Hitler-Tagebücher, geschrieben vom damaligen stern-Chefredakteur Peter Koch
Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Artikel handelt es sich um einen der Beiträge zu den Hitler-Tagebüchern, die den Skandal auslösten. Der stern veröffentlichte am 25. April 1983 die angeblichen Tagebücher von Adolf Hitler, die sich wenige Tage später, am 6. Mai 1983, als Fälschung herausstellten. Dieser Artikel basiert auf den gefälschten Tagebüchern. Er wird hier lediglich als Dokument der Zeitgeschichte veröffentlicht und dient nicht als Informationsquelle über Adolf Hitler und den Nationalsozialismus. 

Lieber STERN-Leser,

  als unser Kollege Gerd Heidemann zum erstenmal der Chefredaktion berichtete, er sei bislang unbekannten Tagebüchern Hitlers auf der Spur, wollte ihm niemand glauben. Eine ganze Generation von Historikern hatte die Archive durchkämmt in dem Bemühen, Hitler zu ergründen. Tausende von Agenten der vier Besatzungsmächte hatten die Aktenkeller der Nazi-Dienststellen nach Dokumenten durchsucht, die kleinen und großen Chargen des Dritten Reichs verhört, nie war auch nur ein Hinweis auf Tagebücher aufgetaucht. Unsere anfängliche Skepsis wandelte sich rasch in kopfschüttelndes Staunen. Sie werden das vielleicht nachvollziehen, wenn Sie sehen und lesen, was Heidemann zusammengetragen hat. Es ist schlicht unglaublich.

  Als das Dritte Reich in Trümmer fiel, war Heidemann gerade 13 Jahre alt, aus dem zerbombten Hamburg in die Lüneburger Heide evakuiert. Am Rande des Dorfes Dorfmark kampierte die aus Holland zurückgezogene Panzer-Division „Hitlerjugend", für den Pimpf Heidemann die Attraktion in den Stunden nach der Schule. Die 17jährigen Waffen-SS-Männer brachten dem Kind, das zu ihnen mit glänzenden Augen aufblickte, das Zerlegen von MGs und das Schießen bei. Wenige Monate später sah Heidemann die befreiten, abgemagerten Insassen des nahe gelegenen Konzentrationslagers Bergen-Belsen, hörte das Tuscheln der Erwachsenen über die Greuel, die dort geschehen waren. 38 Jahre danach hält der STERN-Reporter Heidemann die intimsten Aufzeichnungen jenes Mannes in den Händen, in dessen Namen das damals alles geschah.

  Die Tagebücher sind nur ein Teil des Fundes. Heidemann fand Extra-Tagebuchbände des „Führers" zum Fall Heß, zum Attentat vom 20. Juli 1944, Zeichnungen und Ölbilder des einstigen Kunstmalers Hitler, Bewerbungsschreiben und Liebesbriefe, Gedichte und das handgeschriebene 25-Punkte-Parteiprogramm von 1920.

  Schon der Umfang der Dokumentenfunde rechtfertigte die Schlußfolgerung: Die Geschichte des Dritten Reiches muß teilweise umgeschrieben werden. Der Inhalt erst recht: In völlig neuem Licht erscheint der Fall Heß, der Flug des Führer-Stellvertreters nach England. Wer ahnte auch nur, wie Hitler insgeheim seinem obersten Folterknecht Himmler mißtraute. Noch immer rätseln die Historiker, wann der Diktator den Entschluß zum Überfall auf die Sowjetunion faßte. Die Tagebücher enthüllen es. Am heikelsten: Hitlers Äußerungen über die Juden.

  Für Historiker und Laien kündigen sich Wochen, Monate und Jahre spannender Lektüre, erregter Diskussionen an. Wegen der Fülle des Materials — aber auch mit Rücksicht auf den Leser, dem Atempausen gegönnt werden müssen — wird der STERN die Tagebücher in drei Blöcken in sich geschlossener Serien veröffentlichen. Der erste Serienblock, der in diesem Heft beginnt, schildert das Abenteuer der Fundgeschichte und als nächstes den Fall Heß. Die Heß-Mission wurde an den Anfang gestellt, weil der Hauptbeteiligte noch lebt und angesichts der Veröffentlichung vielleicht bereit sein wird, sein 42 Jahre währendes Schweigen zu brechen. Anschließend wird der STERN die Tagebücher ihrer Chronologie folgend, in Themenkomplexe zusammengefaßt, publizieren. Mit Hitlers geheimer Bilanz der Mordaktion an seinem Duz-Freund Röhm, der Beerbung des Reichspräsidenten Hindenburg und der Übernahme des Oberbefehls über die Wehrmacht schließt die erste Serien-Sequenz. Die Machtübernahme ist 1934 hiermit abgeschlossen.

  Der zweite Serienblock präsentiert den Hitler der Vorkriegsperiode. Die »Friedenszeit« dauerte nur sechs Jahre, gerade zwölf Monate länger als heute die Amtszeit eines Bundespräsidenten, zwei Jahre kürzer sogar als die Regierungszeit Helmut Schmidts. Doch was in diesen Jahren alles geschah: Rheinland-Besetzung, Spanischer Bürgerkrieg, Aufrüstung, Generalsaffäre, der "Anschluß" Österreichs, der Griff nach der Tschechoslowakei, der heimliche Pakt mit Stalin gegen Polen — dies alles gezeigt im Spiegel von Hitlers persönlichen Notizen. Innerhalb dieser zweiten Sequenz wird der STERN auch die über Jahre verstreuten Tagebuch-Eintragungen Hitlers zu seinen Krankheiten zusammenfassen — die Geschichte eines begabten Hypochonders und sein Ende als Drogensüchtiger. Hitlers abgekapselte persönliche Welt wird erkennbar in einem Kapitel, das seine amtsratshaften Notizen über die Frauen auswertet, die seinen Weg kreuzten; über seine Verwandtschaft, die an Journalisten Informationen über das prominente Familienmitglied preisgab; über die Versuche, ihm jüdische Vorfahren zuzuschreiben. Banalitäten als Schlüssel zur Person.

  Politik und Persönliches vermischen sich in dem Kapitel über den Künstler Hitler, der in der Inszenierung von Parteitagen, dem Entwurf von Kolossalgebäuden, den Pilgerreisen nach Bayreuth seinen mystischen Wahn auslebte.

  Teil drei bringt die Jahre des Krieges, Hitlers Version vom Attentat im Sommer 1944, das schreckliche Kapitel »Endlösung der Judenfrage«. Die Serie schließt mit den letzten 100 Tagen im Bunker.

  Zwei Einwände gegen diese Veröffentlichungen liegen auf der Hand. Einwand eins: Woher haben wir die Garantie, daß diese Niederschriften echt sind, daß sie nicht ein genialer Fälscher — möglicherweise an der Potsdamer Militärakademie — produzierte, zu welcher Destabilisierungskampagne auch immer? Der STERN hat mit großer Sorgfalt die Tagebücher prüfen lassen — ein Aufwand, der in der Historikerzunft nicht immer üblich ist. Schriftsachverständige und Zeitgeschichtler der Spitzenklasse machten sich über die Dokumente her. Ihr Urteil ist so einstimmig wie eindeutig. Nach Menschenermessen kann kein Zweifel an der Echtheit bestehen. Stellvertretend für sie alle sei hier das Urteil des englischen Hitler-Experten und Historikers Trevor-Roper, heute Lord Dacre, wiedergegeben: Er sei voller Skepsis angereist, um die Dokumente zu prüfen. Nun aber sei er hundertprozentig von ihrer Echtheit überzeugt.

  Zweiter Einwand: Kann eine solche Veröffentlichung nicht neonazistische Tendenzen fördern? Als Antwort darauf die Gegenfrage: Woher soll ein Journalist das Recht ableiten, Dokumente solchen Gewichts zu unterdrücken und der Öffentlichkeit nicht die Möglichkeit zum eigenen Urteil zu geben? Unterdrückte Dokumente eignen sich weit eher zur Legendenbildung. Die Schlüsselloch-Perspektive der Hitler-Notizen mag manche Verbrechen des Nazi-Regimes verkleinern. Aus diesem Grund druckt der STERN diese Notizen nicht lediglich im Wortlaut ab, sondern präsentiert sie in ihrem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen — gerade das heißt oft: verbrecherischen — Zusammenhang.

  Insbesondere wir Deutschen haben bisher, kaum ein Wunder, noch nicht den Weg zur selbstverständlichen Auseinandersetzung mit dem Nazi-Regime gefunden. An meiner Schule wurden im Geschichtsunterricht gerade noch der Erste Weltkrieg und die Anfänge der Weimarer Republik knapp abgehandelt. Das war in den fünfziger, sechziger Jahren. Später, als Willy Brandt, ein Emigrant, an die Spitze der Regierung kam, gab es mehr Bereitschaft zur Bewältigung der Nazi-Vergangenheit — nicht nur an den Schulen.

  Sicher, die geistig-moralische Auseinandersetzung konnte vielfach nicht mehr nachgeholt werden. Richter und Staatsanwälte, Beamte und Soldaten, Lehrer und Ärzte, Wirtschafter und Politiker hatten elegant den Sprung von der Diktatur in die demokratische Bundesrepublik geschafft, prägten längst das staatliche und private Klima. Aber im Zeichen der Entspannungspolitik kamen in der Geschichtsschreibung jetzt wenigstens die Opfer des Dritten Reichs zu ihrem Recht.

  Mit seinen Serien über die Kinder vom Bullenhuser Damm, den Juwelier von Maidanek, das Schicksal der »Cap Arcona« und den vielen zeitgeschichtlichen Beiträgen Sebastian Haffners hat der STERN versucht, seinen Teil zu einem wahrheitsgetreuen Bild der Nazi-Tyrannei beizutragen. Jahre vorher hatte der STERN die Hitler-Biographie von Joachim Fest im Vorabdruck veröffentlicht — ein Stück Aufklärung in 29 Folgen.

  Die neuen Serien, die auf Hitlers Tagebüchern basieren und von den STERN-Redakteuren Gerd Heidemann, Leo Pesch und Thomas Walde geschrieben werden, sind in dieser Abfolge zu sehen: Teil einer umfassenden Auseinandersetzung mit jenem unglaublichen Geschehen, daß mitten im Herzen Europas in unserem Jahrhundert ein Kulturvolk der Barbarei verfiel.

  Der sowjetische KGB, der amerikanische CIA und der Mossad Israels würden sich auf unsere Fersen heften und aus ihrem jeweiligen Interesse heraus versuchen, Einblick in die Tagebücher zu bekommen oder sie zu vernichten. Das sagten uns erfahrene Berufskollegen aus Amerika und England. Ich glaube eher daran, daß diese Geheimdienstler treue STERN-Leser werden. Alles andere halte ich für übertrieben. Obgleich: Es würde passen in diesen historischen und journalistischen Krimi, der jetzt im STERN auf Seite 20 beginnt.

  Im übrigen: Der STERN wird die Originale der Tagebücher nach Veröffentlichung seiner Serien dem Bundesarchiv übergeben.

PETER KOCH