Es gibt Bücher, nach deren Ende man eine Weile regungslos sitzen bleiben muss und nichts tun kann, außer der Welt, aus der man langsam wieder auftaucht, und den Gefühlen, die sie ausgelöst hat, nachzuspüren. David Szalays Roman "Was nicht gesagt werden kann", für den der Brite mit dem diesjährigen Booker Prize ausgezeichnet wurde, ist so ein Buch. Die Erzählung, die sich über ein halbes Jahrhundert spannt, folgt dem Protagonisten István, der sich zwischen Ungarn und England, Außenseitertum und sozialem Aufstieg bewegt. Zu Beginn ist István 15 Jahre alt und wird von seiner deutlich älteren, verheirateten Nachbarin verführt. Schon hier sind viele der entscheidenden Motive, die durch die Geschichte tragen, angelegt: Machtgefälle, Schweigen, Sex als Weichensteller des Lebens.
An einem eisigen Mittwoch im November sitzt David Szalay im Gartenhaus seines deutschen Verlages in Berlin und hat Zeit für ein Interview. Er trägt Jeans und Strickjacke und wirkt entspannt, obwohl sein Terminkalender seit der Booker-Prize-Verleihung weitgehend fremdbestimmt wird. "Ich wollte ein Buch schreiben, das in der physischen, greifbaren Realität verwurzelt ist", sagt Szalay. Der englische Originaltitel "Flesh", zu Deutsch "Fleisch", macht dies deutlich. Der Körper, der sich verzehrt, begehrt, schmerzt und aushält, spürt und wächst, trägt durch die Geschichte. "Deswegen war es wichtig, mit dem Protagonisten als Jugendlichem zu beginnen. Es ist eine rohe Phase, in der man sich der eigenen Körperlichkeit erst nach und nach bewusst wird, aber noch keine Distanz dazu gewonnen hat", so Szalay. Die fehlende Distanz wird für István lebensentscheidend, bisweilen bedrohlich.
David Szalay seziert komplexe Geschlechterbeziehungen
Szalay schleust seinen Protagonisten durch Erfahrungen, über die er nicht reden kann, weil er schlicht keine Sprache dafür hat; weil sie zu verwirrend, zu überwältigend sind. Der episodische Aufbau entwickelt einen besonderen Sog, zeigt er doch, wie das Leben immer wieder neu zusammengesetzt werden kann.
Es ist ein männlicher Körper, der erlebt und aus dem heraus erzählt wird, "deshalb wird das Buch oft als eines über Männlichkeit gelabelt", sagt Szalay mit einem Schulterzucken. Seine Intention sei nicht gewesen, dieses Thema in den Vordergrund zu stellen. Zumal der Roman fürwahr viel mehr als das ist. Er erzählt von Prägungen, die uns nicht loslassen, von Fremdheit, Beziehungen und von Frauen – vornehmlich sind sie es, die Entscheidungen treffen, denen der männliche Protagonist folgt. Szalay seziert auf die Weise komplexe Geschlechterbeziehungen, in denen Fragen nach Macht und Dominanz, geprägt durch Alter, Kraft, Wissen oder Geld, immer wieder neu justiert werden. "Das Wort Männlichkeit kommt im Text nur einmal vor", betont der Autor. Dann nämlich, als ein junger Mann István einen Vertreter primitiver Männlichkeit schimpft. "Doch die Frage, ob er das wirklich ist, bleibt offen", sagt Szalay.
Weshalb man natürlich nicht umhinkommt, selbst zu überlegen, was Männlichkeit in unserer Gegenwart bedeutet. Wie eng ist sie in unserer Wahrnehmung mit Gewalt verknüpft, die im Roman immer wieder vorkommt? "Wenn man über das Leben als körperliche Erfahrung schreibt, gehört Gewalt dazu", sagt Szalay. Dabei geht es ihm aber nicht um den Moment des Ausbruchs, sondern um die Folgen, die feinen Verschiebungen, die Gewalt in Menschen hinterlässt.
Die Erfahrung, sich fremd zu fühlen
In vielerlei Hinsicht besticht die Erzählung durch ihren Realismus. Die Dialoge wirken nie artifiziell, István antwortet oft mit "Okay". Durch Gegenwarts-Marker wird die Story in der realen Welt verankert, etwa durch Berichte über den EU-Beitritt Ungarns 2004. England und Ungarn als Schauplätze haben für Szalay einen biografischen Hintergrund. Er hat in beiden Ländern Wurzeln, seine Bewegung aber verlief entgegengesetzt zu der seines Protagonisten: Szalay wuchs in England auf und zog als Erwachsener für eine Zeit nach Ungarn. Die Erfahrung, sich fremd zu fühlen, teilen sie.
Der entschiedene Realismus Szalays liegt aber vor allem im Aufbrechen der Kategorien von Gut und Böse, im Aushalten von Gleichzeitigkeit. "Ich denke, in Wirklichkeit gibt es immer eine gewisse Grauzone in den Beweggründen der Menschen", sagt Szalay. "Worte wie Liebe sind es, die uns ein Schwarz-Weiß-Bild aufzwingen wollen."
Das scheinbare Fehlen von Moral in seinem Roman habe er gewählt, damit dort niemand in "gut" oder "schlecht" eingeordnet werden könne. "Über die Menschen, die wir kennen, sagen wir fast nie: 'Diese Person ist schlecht' und 'Diese Person ist gut'. Ich wollte zeigen, wie wir im realen Leben miteinander interagieren", erklärt Szalay. In einer polarisierten Welt ist es genau das, was den Roman so wichtig und, ja, auch preiswürdig macht: das Zeigen von Grauschattierungen, die Abkehr von Schubladen.