Interview mit Marco Wanda "Wow. Wir leben."

  • von Melanie Büttner
Der 38-jährige Frontmann von Wanda richtet den Blick nach innen: In seinem Buch "Dass es uns überhaupt gegeben hat" erzählt Marco Wanda von Kunst als Überlebensinstinkt, überwältigendem Erfolg – und einer Trauer, die keine Deadline kennt.
Der 38-jährige Frontmann von Wanda richtet den Blick nach innen: In seinem Buch "Dass es uns überhaupt gegeben hat" erzählt Marco Wanda von Kunst als Überlebensinstinkt, überwältigendem Erfolg – und einer Trauer, die keine Deadline kennt.
© Ingo Pertramer
Zwischen Hölle und Paradies, Bühnenrausch und tiefer Trauer: Der Frontmann der legendären Wiener Band Wanda spricht über Kunst als Überlebensinstinkt, Trauer ohne Ablaufdatum – und den unschätzbaren Wert des Lebens.

Wanda stehen wie kaum eine andere Band für den Sound einer Generation. Sie singen über das, was uns alle bewegt: über die Sehnsucht nach Nähe, über Liebe in all ihren Formen – zärtlich, wild, verloren, wiedergefunden. Sie singen über das Scheitern und das Weitermachen, über Freundschaft, Vergänglichkeit und den Mut, das Leben zu umarmen, selbst wenn es wehtut. Ihre Songs erzählen vom Menschsein – ehrlich, ungeschönt und voller Herz. Ebenso nahbar, tiefgründig und echt blickt Marco Wanda (38) in seinem Buch "Dass es uns überhaupt gegeben hat" auf sein Leben. Seine Zeilen verbinden die Liebe zur Kunst mit unerschütterlichem Lebenswillen und führen mitten hinein in die Frage, was das Leben am Ende wirklich ausmacht.

teleschau: Mit Anfang zwanzig leben Sie gemeinsam mit einer Kindheitsfreundin in einer kleinen Wohnung in Wien, Sie verfassen literarische Texte, malen und schreiben Ihre ersten Songs. In welche Richtung es gehen könnte, ist Ihnen damals noch nicht klar. Aber Sie wissen, dass Sie Künstler sein wollen. Um Lieder zu schreiben, ziehen Sie sich mit Ihrer Akustikgitarre ins Bad zurück, setzen sich auf den heruntergeklappten Klodeckel und drehen den Wasserhahn auf, damit man Sie nicht so hört. Dabei entstehen Teile von "1, 2, 3, 4" und "Stehengelassene Weinflaschen" – Stücke, die später auf den ersten beiden Wanda-Alben "Amore" und "Bussi" erscheinen und bis heute bei Konzerten gespielt werden. Man muss spontan an Paul McCartney denken, der in der Anfangszeit der Beatles ähnlich wie Sie auf dem stillen Örtchen seines Elternhauses Gitarre spielte und sang, weil dort die Akustik so gut war. Waren Sie als Beatles-Fan damals von McCartney inspiriert – oder war das vor allem eine Möglichkeit, ungestört zu arbeiten?

Marco Wanda: Als ich das Buch schrieb, musste ich an dieser Stelle schmunzeln. Mein erster Gedanke war: "Gott sei Dank musst du nicht mehr unter solchen Umständen arbeiten." Mittlerweile habe ich eine eigene Wohnung, in der ich arbeiten kann. Die Szene im Bad symbolisiert für mich eine schwierige Zeit. Das Buch ist ja nicht biblisch – es beginnt nicht in einem Paradies, aus dem man vertrieben wird, sondern umgekehrt: Es beginnt in der Hölle und wird zum Paradies. Wenn man so will, hat es auch ein Happy End: Am Ende steht die Anerkennung der Realität und der Wille, das Leben so zu leben, wie es ist. Bis dahin ist es nur eine Fluchtbewegung. Ich wollte damals weg von dort. Ich war an keinem guten Ort, als das alles begann.

"Ich wusste, dass meine einzige Chance die Kunst ist"

teleschau: Sie haben damals das Gefühl, in einer entleerten Wiener Langeweile zu leben, in der irgendetwas passieren muss. Dass es später Wanda sein würden, die passieren, können Sie sich noch nicht vorstellen. In dieser herausfordernden Zeit lernen Sie den Musiker und Maler Felix Jänner kennen. Die Frauen in Ihrer Clique aus Malern, Arbeitslosen und Rappern sind in ihn verliebt, die Männer schätzen oder bewundern ihn. Bei einem Spaziergang mit Felix Jänner am Donaukanal geht Ihnen damals durch den Kopf: "Ich möchte etwas bewegen, ich möchte endlich etwas von Wert finden, das ich dieser sinnlosen Welt entgegenhalten kann." Wenn Sie heute zurückblicken – ist Ihnen das gelungen?

Wanda: Ja, ich denke schon. Mit Anfang zwanzig war ich sicher nicht weise, und ich glaube auch nicht, dass ich besonders intelligent war. Aber ich habe geahnt, dass es die Bestimmung des Menschen ist, einen sinnhaften Beitrag zum gesellschaftlichen Leben zu leisten. Und ich wusste, dass meine einzige Chance die Kunst ist. Dass ich keinen sinnhaften Beitrag leisten kann, außer in der Kunst.

teleschau: 2012 sind Wanda bereits gegründet, doch der Durchbruch ist noch nicht in Sicht. Es zieht Sie wieder stärker zur Literatur. Sie wollen über den Arabischen Frühling schreiben – jene Zeit der Hoffnung, der Proteste und der Umbrüche in der arabischen Welt – und reisen dafür nach Kairo, um mit Revolutionärinnen und Revolutionären der Stunde zu sprechen. Dabei werden Sie plötzlich selbst Zeuge der Unruhen: Vom Balkon Ihres Hotelzimmers am Platz vor der al-Hussein-Moschee, einer der heiligsten Stätten Ägyptens, beobachten Sie, wie aus einem Fest ein Streit wird – und aus dem Streit ein Ausbruch massiver Gewalt, mit Feuerwerkskörpern, Schüssen und Molotowcocktails, Toten und Verletzten. In Ihren Worten sehen Sie vor sich den Querschnitt einer traumatisierten Gesellschaft – nach monatelanger Revolution und wochenlangem Fasten in unsäglicher Hitze. In dieser Nacht schreiben Sie "Kairo Downtown" – ein Lied, das später zu einem weiteren Hit von Wanda wird. Wenn Sie heute an diesen Moment zurückdenken – was ist Ihnen geblieben?

Wanda: Kairo hat mich die moralische Deutungshoheit Europas anzweifeln lassen – bis heute nachhaltig. Wir sind immer die Guten. Wir sind uns unserer selbst so sicher in dieser Rolle und zeigen ständig auf Missstände – aber immer aus der Position heraus, dass man uns nichts vorwerfen kann. Und das passiert auf allen gesellschaftlichen Ebenen: Die Linken sind sich ganz sicher, dass die Rechten im Unrecht sind. Und die Rechten sind sich ganz sicher, dass die Linken im Unrecht sind. Aber das kann ja nicht stimmen.

Die gefährliche Identität des Rechthabens

teleschau: Fehlt es uns an der Fähigkeit, Widersprüche, Unsicherheiten und Spannungen auszuhalten – und dabei in Verbindung zu bleiben? Mit anderen Worten: Fehlt es uns an Ambiguitätstoleranz?

Wanda: Ja, wir halten Ambivalenzen nicht mehr aus – weder in Denkweisen noch in Meinungsverschiedenheiten, sei es privat, politisch oder gesamtgesellschaftlich. Und das ist gefährlich. Ich habe das Gefühl, eine gefährliche europäische Identität ist im Entstehen – die Identität des Rechthabens. Das letzte Gut, von dem wir glauben, es noch zu besitzen, und das verteidigen wir gegeneinander und voreinander. Wir müssen immer recht haben. Gespräche, Diskurse und Konflikte werden nie mit dem Ziel eines Kompromisses geführt, sondern immer unter dem Vorwand, man wolle sich am Ende einigen. Aber eigentlich möchte man den anderen nur belehren und zurechtweisen. Und so umformen und umgestalten, bis er einem passt und entspricht und man die eigene Haltung gespiegelt vorfindet. Also, man könnte jetzt nonchalant sagen: Wir treiben's nur noch mit uns selbst – geistig, gesellschaftlich, emotional. Wir wollen niemandem begegnen, wie er wirklich ist, sondern ihn auf allen Ebenen verändern. Aber wie stellen wir uns das vor? Solange es die Menschheit gibt, wird es progressive und konservative Strömungen geben, wir müssen lernen, diese Ambivalenz auszuhalten.

teleschau: In den Songs von Wanda steht der Mensch im Mittelpunkt, das Emotionale, Zwischenmenschliche – politische Themen bleiben dafür eher im Hintergrund. Wie kommt das?

Wanda: Das Bestreben der Band war immer auch gesellschaftspolitisch. Uns ging es von Anfang an darum, Menschen zusammenzubringen, Brücken zu bauen oder zumindest anzubieten. Mehr kann man ja nicht machen. In diesen Momenten ist die Band gesellschaftspolitisch, aber "politisch politisch" ist sie nicht. Ich kritisiere in meinen Worten und Haltungen ja nicht die politischen Entscheider oder Machthaber, sondern die Zivilgesellschaft. Da oben – nein – was soll ich da sagen? Das ist nicht meine Welt.

teleschau: Würden Sie sagen, dass ein Wanda-Konzert an sich schon eine gesellschaftspolitische Aktion ist? Sie schaffen es ja tatsächlich, eine Verbindung herzustellen – mit dem Publikum, untereinander, über Blicke, Gesten, Spielerisches, Energie. Am Ende liegt dieses "Amore" spürbar im ganzen Raum – eine Welle aus Liebe, Verletzlichkeit und Lebenshunger, die das gesamte Publikum erfasst.

Wanda: Wir versuchen, eine Ebene zu schaffen, auf der sich Menschen begegnen – in der Hoffnung, dass sie lernen oder wieder erlernen, eine intensive Beziehung zueinander zu leben statt sich weiter und weiter in der Beziehung zu technischen Geräten zu verlieren. Ich glaube, inzwischen sind das die dominierenden Beziehungen in unserer Gesellschaft. Letzten Endes sind es aber nur Geräte, das darf man nicht vergessen.

Der Erfolg – Segen und Überwältigung

teleschau: Sie schreiben sehr offen über die Selbstzweifel, mit denen Sie immer wieder zu kämpfen hatten. Sie zweifelten an sich selbst – an Ihrer Musik, an Ihrem Weg, an dem, was Sie überhaupt erschaffen können. Und dann kam plötzlich der Erfolg – gewaltig, überwältigend. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?

Wanda: Der Erfolg war ambivalent. Da standen sich so viele diametral gegensätzliche Gefühle gegenüber. Einerseits war der Erfolg das Ticket raus aus dem Leben, das ich damals so nicht führen wollte. Das Schwierige daran war das Berühmtsein, das mit dem Erfolg einfach kam – und das man sich nicht vorstellen kann, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Das hat mein Leben überrollt, damit hatte ich nicht gerechnet. Das war nie ein Ziel. Und es ist auch nichts, was man in der Schule lernt. Niemand erklärt einem, was es bedeutet, wenn man einen Teil seiner Anonymität verliert.

teleschau: Im Buch erzählen Sie, wie Sie auf einmal von vielen gelobt und anerkannt wurden, aber gleichzeitig viel zu sichtbar waren – als hätten Sie ein "leuchtendes Merkmal" getragen, das Sie "als Marco Wanda auswies und jedes Geheimnis um seine Existenz brachte". Gleichzeitig fühlten Sie sich wie ein Verstoßener – mit Aufmerksamkeit überschüttet, wo Sie in Wahrheit aber etwas ganz anderes gebraucht hätten.

Wanda: Genau. Man sitzt nie wieder in einer Kneipe unter Gleichaltrigen und teilt deren Lebensrealität. Das wird man nie wieder erleben. Weil man eine ganz andere Lebensrealität hat.

teleschau: Ist das ein Trauerprozess?

Wanda: Trauerprozess ist ein sehr gutes Wort dafür – weil man etwas verliert, und zwar so schnell, dass man sich kaum daran anpassen kann. Mittlerweile kann ich das, aber damals war es schwierig. Aber das Gute ist ja: Man wird nur einmal von heute auf morgen berühmt. Und es ist ein Zustand, der nicht lange anhält. Der Hype, den wir erlebt haben, hat irgendwann aufgehört – zum Glück. Ein Hype ist etwas, das entsteht und wieder zerfällt. Bei uns hat das drei Jahre angehalten. Und jetzt ist diese Karriere vielmehr Teil meines natürlichen Lebens. Ich habe das Gefühl, ich bin jetzt an einem Punkt angekommen, der mehr einem Marathon gleicht als einem Sprint. Der Hype und das Berühmtwerden waren ein Sprint. Das hat mir die Lunge zerrissen, denn so schnell kann man gar nicht laufen.

teleschau: Ein starkes Bild. Und ist es jetzt eher ein Plateau, das eine gewissen Pflege braucht, damit es nicht bröckelt?

Wanda: Ja, man muss achtsam damit umgehen. Aber gleichzeitig beneide ich die Jugend. Man ist so mutig wie nie wieder danach und trifft völlig überstürzt aus dem Bauch heraus Entscheidungen, die man später nie wieder so treffen würde. Das ist schon auch ein tolles, sehr kurzes Zeitfenster.

Fall aus dem Paradies

teleschau: Wenn man die Risiken noch nicht kennt und sich einfach reinstürzt, ist es Ausprobieren und Scheitern. Man trägt vielleicht ein paar blaue Flecken davon, gleichzeitig ist es wahnsinnig aufregend.

Wanda: Ja, aber man stößt sich das erste Mal. Man glaubt eigentlich, es gibt keine Grenzen.

teleschau: Wenn man schon einmal durch die Hölle gegangen ist, hat man ja auch nichts mehr zu verlieren, oder?

Wanda: Tatsächlich, ja.

teleschau: In den Jahren 2022 und 2023 passiert etwas, das Sie im Buch als Ihren "Fall aus dem Paradies" beschreiben. Sie persönlich – aber auch Sie als Band – sind in dieser Zeit mit vielen Abschieden und Todesfällen konfrontiert: Ihr Vater stirbt an Leukämie, ebenso Ihr Freund und Wanda-Keyboarder Christian Hummer, und auch der Vater Ihres damaligen Drummers Valentin Wegscheider. Ihr Weggefährte Felix Jänner nimmt sich das Leben ...

Wanda: ... und Mahir Jahmal ...

teleschau: ... der Künstler, Fotograf und Musiker, mit dem Sie und Christian Hummer befreundet waren, stirbt, während er auf dem Sofa Gitarre spielt. Eine wahnsinnig dichte, emotional schmerzhafte Zeit. Hat sie rückblickend etwas in Ihnen verändert?

Wanda: Ich habe sehr schnell gelernt, dass ich mir den Druck nicht machen kann, daraus etwas Weises zu ziehen und es dann wie ein Philosoph mitzuteilen. Ich glaube nicht, dass ich aus all diesen Verlusten etwas gelernt habe – weil ich auch nichts lernen wollte. Das Einzige, was ich seit diesen Verlusten möchte, ist trauern. Und mir den Raum und die Zeit dafür nehmen – ohne Druck. Es gab einen sehr gefährlichen Punkt, an dem wir auch die Promo für das Album, das nach diesen Todesfällen entstanden ist, abgebrochen haben, weil uns klar wurde: Erstens wollten wir keine Todesfälle kommerzialisieren, und zweitens wollten wir nicht unter dem Druck stehen, jetzt in Hochgeschwindigkeit etwas zu lernen und darüber zu berichten. Deshalb gibt es auf diese Frage keine Antwort. Ich trauere einfach. Eigentlich ist das die einzige Antwort. Ich trauere – und kann nur Menschen dazu aufrufen, sich die Zeit zum Trauern zu nehmen. Trauer hat kein Ablaufdatum. Sie muss auch nicht gut sein. Sie muss auch nie gut werden. Der amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac hat das in seinen Glaubenssätzen und Techniken für moderne Prosa niedergeschrieben: "Erkenne an, dass Verluste für immer sind." Das ist eine sehr, sehr gute Regel.

Musik, die aus Schmerz entsteht und Nähe schenkt

teleschau: "Bei niemand anders" – eines der berührendsten Wanda-Lieder – entsteht in dieser Zeit. In der Silvesternacht vor dem Tod Ihres Vaters schreibt er Ihnen per SMS: "Ich liebe dich für immer und ewig." Während die Menschen unter Ihrem Fenster von zehn herunterzählen, sich auf der Gasse in die Arme fallen und Walzer tanzen, liegen Sie auf deinem Sofa und weinen. Am nächsten Morgen setzen Sie sich an Ihr Keyboard und beginnen zu singen – eine Zeile reiht sich an die nächste, bis ein Lied entsteht: "Weil deine Angst vor dem Ende ist so alt wie die Menschheit selbst, und wenn du glaubst, dass es endet, bin ich da, und ich halt dich fest ..." Ihre Bandkollegen Manu Poppe und Ray Weber und auch Ihr Produzent Zebo Adam – alle verstehen sofort, was dieses Lied bedeutet. Mit viel Behutsamkeit machen Sie "Bei niemand anders" zu dem, was es heute ist: ein Lied, das tief geht und Menschen ebenso verbindet wie zu Tränen rührt. Was bedeutet Ihnen dieses Lied?

Wanda: Die ganze Entstehung rund um das Lied war wild. Überhaupt war es wild, das Album "Ende nie" aufzunehmen. Ich glaube nicht, dass wir so etwas als Band, als Künstler und als Menschen jemals wieder erleben werden. Und wenn doch, dann wäre es das zweite Mal – und es wird nie wieder vergleichbar mit dem ersten Mal sein.

teleschau: Was meinen Sie mit "wild"?

Wanda: Wir saßen zu viert in diesem Kellerstudio bei Zebo – über acht Monate. Es war ein unglaublicher Prozess: dazusitzen und so menschlich voreinander zu sein – einerseits – und andererseits doch dieses Rollenspiel von Band und Produzent, wenigstens zum Schein, aufrechtzuerhalten. Wir haben am Tag vielleicht eine Stunde Musik gemacht und fünf, sechs, sieben, acht Stunden einfach nur geredet: über das Leben, den Tod, die Endlichkeit. Es war eine unglaubliche Zeit. Sie hat sich zu keinem Moment wie Arbeit oder wie die Ausübung eines Berufs angefühlt. Diese Grenze wurde weit gesprengt. Aber vieles liegt auch im Nebel und entzieht sich meiner Erinnerung, weil dieses Album unter einem solchen Schock entstanden ist.

Wut austreiben, Herz öffnen

teleschau: Die Triggerpunkte Ihrer Songtexte lassen Sie nicht unberührt, schreiben Sie in Ihrem Buch. Und dass Lebenserfahrungen, positive wie negative Energien, in Ihre Musik fließen. Gleichzeitig sagen Sie, dass Sie Ihre Wut und die verborgene Wut des Publikums "auszutreiben" versuchen wie einen Dämon. Wie gelingt Ihnen dieser Prozess auf der Bühne – und wie gehen Sie mit den starken Emotionen um, ohne dass sie Sie selbst überwältigen?

Wanda: Der große Vorteil – und gleichzeitig der große Nachteil -, den ich gegenüber einem Interpreten oder einem Schauspieler habe, ist, dass ich nicht fremde Texte spreche, sondern meine eigenen Texte singe. Der Vorteil daran ist, dass es mich emotional mitnimmt und dadurch ganz ehrlich darzubieten ist. Und das ist gleichzeitig manchmal auch ein Nachteil. Aber mit diesen Energien umzugehen, bin ich nach zehn, zwölf Jahren einfach auch gewohnt. Das gehört für mich dazu, und ich nehme niemals Energien mit, die auf der Bühne entstehen. Sobald ich die Bühne verlasse, sind diese Energien weg. Es ist wie ein Ritual: Indem ich etwas kontrolliert zulasse und austreibe, bin ich ein Stück weit davon befreit.

teleschau: Ist das so eine Mischung aus Katharsis und Selbstberuhigung – also ein bewusster Umgang mit dem, was auf der Bühne in Ihnen passiert?

Wanda: Ich bin mir sicher, dass da ganz viele psychologische Techniken ablaufen, die ich aber nur intuitiv anwende. Die kann ich nicht erklären oder begründen. Man könnte das fast wissenschaftlich angehen, wenn man wollte. Ich glaube aber auch, es ist wichtig für mich als Künstler, darüber ganz wenig zu wissen. Diese Abläufe dürfen mir gar nicht bewusst sein. Da halte ich mich kontrolliert dumm (lacht). Ganz wichtig in meinem Beruf. Nur nicht zu clever werden.

teleschau: Ist die Bühne damit also kein Ort für Therapie?

Wanda: Ich glaube Therapie ist Therapie. Eine Therapie kann man durch nichts ersetzen. Aber es ist ein Schauplatz der Psyche. Und wahrscheinlich in meinem Leben mit Abstand der wildeste. Und dann ist es auch gut, wenn es danach ruhig ist. Das ist großartig.

Die Ehrfurcht vor der Einmaligkeit des Daseins

teleschau: Was haben Ihnen all die Jahre voller Arbeit bis zur Erschöpfung, die Hochs und Tiefs gegeben – und was haben Sie Ihnen genommen?

Wanda: Ich glaube, das Fazit über mein Leben und insbesondere das Leben der letzten zehn Jahre und ich wie ich es geführt habe, ist ein positives. Mir wurde weitaus mehr geschenkt als mir genommen wurde. Ich bin dankbar, dass ich das tun kann, was ich liebe. Das ist nicht selbstverständlich. Davon träumt man, wenn man jung ist – aber es ist nicht gegeben, dass man das erreicht. Und ich habe es durch eine Verkettung ganz merkwürdiger Zufälle erreicht. Das kann mir, gefühlt, auch nie wieder jemand nehmen. Und selbst wenn – es ist passiert. Es wird für immer passiert sein. So dramatisch und tragisch vieles von dem auch ist, was in diesem Buch steht – es war eine großartige Zeit, und ich möchte sie nicht missen. Ich weiß, dass sie so nie wiederkommt. Einerseits zum Glück, andererseits ist das schade.

teleschau: "Dass es uns überhaupt gegeben hat" – der Titel des Buchs – klingt wie ein Nachruf, aber auch wie eine Verneigung vor dem Leben. Was bedeutet der Titel für Sie?

Wanda: Der Titel ist ambivalent, das stimmt. Aber er möchte den Leserinnen und Lesern auch sagen: Wow. Wir leben. Was für ein Geschenk! Hast du jemals darüber nachgedacht – wirklich nachgedacht? Ist dir jemals wirklich bewusst geworden, dass du lebst – und zwar nur ein einziges Mal? In anderen Worten bedeutet der Titel: Wow – Rufzeichen!

„Dass es uns überhaupt gegeben hat“ von Marco Wanda · Hörbuchauszug

Copyright: Hanser Verlag

Wanda – Bei niemand anders

Offizielles Video – Wanda – Bei niemand anders

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