„Befremden“, „Missachtung des Parlaments“, „Verfassungszynismus“: Mit einiger Empörung über das Verhalten der Bundesregierung hat das politische Berlin auf unsere stern-Geschichte über die dritte Generation von Al-Qaida reagiert, die unter anderem Neues über den Tod des deutschen Terrorverdächtigen Bünyamin Erdogan enthüllte.
Der Fall wird jetzt neu aufgerollt.
Erdogan war am 4. Oktober 2010 im pakistanischen Waziristan bei einem amerikanischen Drohnenangriff ums Leben gekommen, gemeinsam mit einem Iraner aus Hamburg sowie drei Einheimischen. Sein Bruder Emrah, ebenfalls vor Ort, überlebte mit Glück. Wie der Angriff verlaufen war, wie viele Opfer es gab und wer sie waren, erfuhr das Bundekriminalamt (BKA) schon am Tag danach: Die Ermittler hörten die Telefonate von Erdogans Bruder mit der Familie in Deutschland mit, in denen all das plastisch beschrieben wurde. Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Schilderungen hatte das BKA nicht.
Den Wortlaut der Telefonate und ihre Bewertung durch das BKA zitiert der stern auf Grundlage geheimer Unterlagen im aktuellen Heft in Auszügen. Damit ist klar: Das BKA (und somit das vorgesetzte Bundesinnenministerium und ergo die Bundesregierung) wusste Bescheid über Anzahl und Identität der Drohnenopfer vom Vortag. Gleichwohl mauerte die Bundesregierung und fertigte Fragesteller mehrfach und noch Wochen später wie dumme Jungs ab. Das klang zum Beispiel so wie am 15. November 2010 in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag: „Über Anzahl und Identität der bei dem angeblichen Raketenangriff am 4.Oktiober 2010 angeblich getöteten Personen liegen der Bundesregierung bislang keine offiziell bestätigten Informationen vor.“
„Keine offiziell bestätigten Informationen“ – Wortwahl als Trick
Jeder Fachmann weiß, dass die Amerikaner einen Teufel tun werden, irgendwelche Informationen über streng geheime Drohnenoperationen ihres Geheimdienstes CIA auf pakistanischem Territorium „offiziell“ zu bestätigen. Und jeder vom Fach weiß, dass selbst die pakistanische Regierung keinen Zugang zur Islamisten-Hochburg mit dem Grab des ersten deutschen Drohnentoten hatte. Es konnte in diesem Fall gar keine „offiziell bestätigten Informationen“ geben. „Inoffiziell“ aber wussten deutsche Stellen exakt, was passiert war.
Nach dem stern-Bericht geißelte Wolfgang Neskovic (DIE LINKE), Richter a.D. am Bundesgerichtshof und Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr), die Informationspraxis der Bundesregierung als „Wortklauberei“ und „sachlich falsch“ – die verfassungsgemäße Pflicht, "das Parlament vollständig und wahrheitsgemäß zu informieren“ sei verletzt. Hans-Christian Ströbele (DIE GRÜNEN), ebenfalls PKGr-Mitglied, verlangt eine schriftliche Stellungnahme der Bundesregierung zu dem stern-Bericht. Zumal dort auch aufgedeckt wurde, dass Erdogan für ein Selbstmordattentat mit Dutzenden Toten eingeplant war und dass das BKA dies wusste. Ströbele, mit bislang drei Anfragen zum Thema besonders hartnäckig, sieht sich erneut zur entscheidenden Frage veranlasst: Haben an die USA übermittelte Hinweise deutscher Stellen über Gefährder wie Erdogan deren „gezielte Tötung ermöglicht oder gar veranlasst?“
von Uli Rauss
Foto: Leslie Pratt/EPA/DPA