Editorial Die schöne neue Teilzeit-Welt hat sich entzaubert

Liebe stern-Leser!

Eine schöne neue Arbeitswelt hatte die Politik damals in Aussicht gestellt, vor allem den Frauen: ein Recht auf Teilzeitarbeit für alle. Inzwischen sind es fast neun Millionen Frauen, die halbtags arbeiten. Er arbeitet Vollzeit, sie Teilzeit, das ist inzwischen gesellschaftlich akzeptiert. Rund 40 Prozent aller Paare in Deutschland leben in dieser - neudeutsch - "modernen Ernährerkonstellation". Sie hat die sogenannte Hausfrauenehe abgelöst. Doch inzwischen sind viele aus dem Traum von Work-Life-Balance erwacht. Die Frauen ersticken im Stress, bekommen kaum Anerkennung, verdienen gerade in den ausufernden Minijobs erbärmlich wenig Geld und landen oft beruflich im Abseits. 70 Prozent der Frauen fühlen sich im Job diskriminiert. Gerade die besser Ausgebildeten erleben nach der Geburt der Kinder einen Karriereknick und sind extrem unzufrieden.

Für die Titelgeschichte dieser Ausgabe (Seite 24) Frauen zu finden, die über den harten Alltag zwischen Teilzeitjob und Familie erzählen, fiel den Autorinnen nicht schwer. Nach einem Aufruf der stern-Redakteurinnen Catrin Boldebuck und Doris Schneyink im Frauennetzwerk "Business und Professional Women" (BPW) erreichten innerhalb einer Woche fast 50 Mails die Redaktion. Schwieriger war es, Fototermine zu vereinbaren. Die Teilzeit-Frauen fanden kaum Zeit in ihren straffen Terminplänen.

Die Lösung des Problems wurde schon oft beschrieben und gefordert: Die erbärmlich unterentwickelte Kinderbetreuung in Deutschland muss endlich auf internationales Niveau gehoben werden, damit Frauen entspannter ihrem Beruf nachgehen können. Wir brauchen mehr Krippenplätze und Ganztagsschulen. Die Unternehmen müssen mit flexiblen Arbeitszeiten und Betriebskindergärten auf die Bedürfnisse von Eltern reagieren. Das wäre eine schöne neue Arbeitswelt.

Pharmakonzerne lassen sich bei der Entwicklung neuer Medikamente nicht gern in die Karten blicken - zu tief sitzen Misstrauen und Angst, die Medien könnten auf der Suche nach einem geschäftsschädigenden Skandal sein. Diese Erfahrung machten auch Indien-Korrespondent Teja Fiedler und Fotograf Stephan Elleringmann, als sie für den stern im boomenden Testmarkt Indien recherchierten. Neben viel Ablehnung und Argwohn trafen sie in Bangalore, Mumbai und Ahmedabad aber auch auf Unternehmen, die den beiden Journalisten erstaunlich bereitwillig Einblick in das Geschäft mit der Erprobung von neuen Drogen an kranken Menschen gewährten. Ein Geschäft, das in Indien wegen seiner riesigen, doch gesundheitlich angeschlagenen Bevölkerung und der vergleichsweise niedrigen Kosten so rapide wächst wie sonst nirgends auf der Welt. Sie trafen ganze Familien, die sich als menschliche Versuchskaninchen ein regelmäßiges Nebeneinkommen sichern, schwerkranke Patienten, die ihrem Doktor und seinen neuen Medikamenten blind vertrauen, auf Ärzte, die modernste Methoden meistern, aber auch auf große ethische Leerstellen in einem Markt, der zwischen Weltklasse- Technologie und Drittwelt-Misere oszilliert (Seite 52).

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

print