Editorial Ein Mann, der an sich glaubt

Liebe stern-Leser!

Um Herkunft und Heimat geht es in zwei großen Themen dieses Heftes. Ab Seite 188 beschreibt stern-Autor Peter Sandmeyer die wieder erstarkte Sehnsucht nach Heimat. Nach diesem wärmenden Gefühl der Vertrautheit, das nicht mehr deutschtümelnd, sondern salonfähig ist. Weil es der Seele ein wenig Schutz bietet vor der bedrohlichen Glo-balisierung und der unwirtlichen Reform-Atmosphäre in unserem Land.

Das neue Heimatgefühl kann dabei nicht als Beleg für das Sichausbreiten eines neuen Nationalismus herhalten. Wer seine Heimat liebt, muss noch keinen Nationalstolz empfinden. Die Leitkultur-Debatte wird von der Union aus populistischen Gründen künstlich beatmet und hat sich schon viel zu weit entfernt von ihrem aktuellen Ausgangspunkt: dem Mord an dem niederländischen Filmemacher van Gogh und der Kernfrage, wie wir unsere Heimat mit Zuwanderern teilen können. Ansonsten gilt: Leitkultur ist das Grundgesetz, und das Grundgesetz ist die Leitkultur.

Der Herkunft und Heimat

des Bundeskanzlers widmet sich unsere Titelgeschichte. stern-Autor Andreas Hoidn-Borchers und seinen Kollegen Lorenz Wolf-Doettinchem führte die Spurensuche in abgeschiedene Ortschaften im Westfälischen, wo Gerhard Fritz Kurt Schröder raue, bitterarme Zeiten durchstehen musste. Irgendwann sagte er seiner Mutter: "Wart ab, Löwe, eines Tages hol ich dich mit dem Auto ab." Er nannte sie "Löwe" wegen ihrer Haartolle - und weil sie dauernd ums Überleben ihrer Kinder kämpfte. Geputzt bei anderen Leuten hat sie bis an die 70, während ihr Sohn sich nach oben redete - schlagfertig, provozierend, brutal. Angesichts seines Werdegangs sollte man meinen, dass ihm die viel zitierte soziale Gerechtigkeit, wie sie die SPD versteht - also von oben nach unten verteilen -, eine Herzenssache sei. Dass die aktuellen Forderungen seiner Genossen nach Vermögensteuer, Erbschaftsteuer und Besserverdienersteuer bei jemandem mit politischer Tellerwäscherkarriere zündeten. "Ich habe nicht vergessen, woher ich komme. Und deshalb weiß ich auch sehr genau, wo ich hingehöre!", hatte Schröder im Wahlkampf 1998 noch gern seine Zuhörer gerührt. Aber er machte aus der leidvollen Erfahrung seiner Herkunft keine leidenschaftlichen Ziele seiner Politik.

Er wollte einfach nur nach ganz oben, und es war ihm wurscht, dass sein Weg zur Macht ungefähr so geradlinig war wie die Echternacher Springprozession. Der Stil des alten Schröder, Politik als überzeugungsfreien Spielplatz zu nutzen, entspricht dem Stil des jungen Schröder: Nur der Sieg zählt! Schon in seiner Jugend in Talle hat er jede Chance genutzt, nach der Devise Durchschlagen. Damals ging es um Tore und warme Mahlzeiten, heute um die Gunst der wankelmütigen Wähler.

Eigentlich ist er ein politischer Raubritter, der im richtigen Moment Feldzüge startet: wenn der Gegner schwächelt und die Beute sicher scheint. Inzwischen jedoch ist unser Kämpfer ein bisschen älter und weiser geworden. Er hält Reformkurs und erfährt, dass man auch für so etwas gelobt wird. Es scheint tatsächlich politischer Veränderungswille als programmatische Linie erkennbar zu sein. Deshalb kann man sagen: Er ist ein guter Kanzler. Momentan jedenfalls.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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