Mannomann, wie die Zeit vergeht. War doch erst gestern, als ein noch einigermaßen junger, verdammt ehrgeiziger und in diesem Moment nicht ganz nüchterner Jungabgeordneter nächtens am Gitter des Kanzleramtes rüttelte und bierselig krähte: "Ich will da rein." (damals - ja, soo lange ist das her - noch in Bonn; Helmut Schmidt - ja, DER Helmut Schmidt - regierte in den letzten Zügen, und Angela Merkel organisierte noch blauhemdig Kulturabende der FDJ).
Tja, und heute, nachdem er lange wieder da raus ist, wo er es tatsächlich reingeschafft hatte, heute wird dieser Junge aus Mossenburg im Lipperland, der sich vom - wie er es selbst ausdrückte - Fensterkitt fressenden, in armseligen Verhältnissen aufwachsenden Schmuddelkind bis ins höchste Regierungsamt boxte und ackerte, heute wird dieser doch vergleichsweise immer noch juvenil wirkende Gerhard Fritz Kurt Schröder: 70. Uff. Willkommen im Club von Robert de Niro, Keith Richards und Joe Frazier, um nur mal ein paar aus seiner Gewichtsklasse zu nennen.
Undank ist der Welten Lohn
Kränze, auch solche mit dornigen Komponenten, werden an diesem Tag genug geflochten für den Mann, der Deutschland erstmals nach 1945 wieder die Beteiligung an Kriegen zugemutet, ihm aber auch einen unsinnigen gegen den Irak erspart hat; der seine Partei bei Wahlen wieder in Willy-Brandt-Regionen und in die Mitte der Gesellschaft geführt hat, aber mit seiner Politik dann die Gründung einer gesamtdeutschen linken Konkurrenz zur SPD beförderte; der als Kanzler das Land erst gesellschaftlich und dann, mit der Agenda 2010, auch ökonomisch modernisierte und der von den Wählern, die ihm mal zu Füßen lagen, heute trotzdem als eher vernachlässigenswerte Größe unter den deutschen Regierungschefs einsortiert wird. Undank ist der Welten Lohn.
Deshalb hier als kleine persönliche Würdigung zwei Lieblingsszenen mit dem Kanzler Schröder, eine spielt ziemlich zu Beginn, eine ziemlich am Ende seiner siebenjährigen Amtszeit. Die erste also: der amerikanische Club in Berlin. Die Regierung ist umgezogen, aber das Kanzleramt nicht fertig. Schröder regiert aus dem alten Staatsratsgebäude und empfängt mal hier, mal da. Schröder hat an diesem Abend eine Runde ihm gut bekannter und meist wohlgesonnener Journalisten zum Hintergrundgespräch eingeladen, viele darunter, mit denen er sich duzt, die ihn seit Juso-Zeiten kennen und immer wieder auch in Hannover besucht und gesprochen hatten. Es gibt was Ordentliches auf die Gabel, die Ober wuseln, um flott vom schweren Roten nachzuschenken. Es geht um Lafontaine, Berlin, die Homo-Ehe, Rot-Grün, das vermurkste erste Regierungsjahr. Als das Gespräch zu Ende war, da lehnte sich Schröder zurück und sagte grinsend in die Runde: "Jetzt habt ihr euch alle ne Krawatte umgebunden und Herr Bundeskanzler zu mir gesagt …"
Herr Bundeskanzler und Gerhard Schröder
Es hatte etwas Spöttisches. Es hatte aber auch etwas - sehr trotzig Genießerisches. Er hatte es allen gezeigt. Er war jetzt drin. Und allmählich passte er sich das Amt an und es nahm zugleich Besitz von ihm. Aber eigentlich war es doch bis zum Schluss eine Doppelexistenz: Herr Bundeskanzler und Gerhard Schröder. Sicher, meist dominierte die Amtsfigur. Aber immer wieder blitzte da auch der alte Gerd durch. Die Wahlkampfsau, die instinktiv jeden Fehler des Gegners für sich nutzte und auf den armen "Professor aus Heidelberg" einteufelte, der sich mit seinen Steuerplänen in die Politik verirrt hatte. Der begnadete Übelnehmer, der in Ghana den mitgereisten DGB-Chef und Schröder-Kritiker Michael Sommer mit den Worten vorstellt: "Den können Sie hier behalten. Der ärgert mich nur in Berlin." Der Alles-oder-Nichts-Politiker, der im Zweifel und in Bedrängnis alles auf eine Karte setzte, den kriegslüsternen USA in einer Mischung aus Überzeugung und Stimmenfängerei den imaginären Stinkefinger zeigte oder mal eben eine komplette, die ehernen Grundsätze seiner Partei malträtierende Sozialreform aus dem Boden stampfen ließ. Rücksicht? Wir sind hier nicht im Schmusekurs für höhere Töchter! Alles Pussies außer Gerhard.
Man konnte ihn dafür hassen, manche taten es auch, und zwar mit Inbrunst. Man konnte ihn genau dafür aber auch - lieben. Zeitweise wenigstens.
Wer den Krieg haben will, kann ihn kriegen
Und dann diese grandiose Nummer am 22. Mai 2005. Eine Schröder-Szene ohne Schröder. Der Abend der Landtagswahlen in NRW. Die SPD hat schmählich verloren, die Herzkammer der Sozialdemokratie fällt an Schwarz-Gelb. Die wegen Hartz IV rebellische SPD-Linke wird noch rebellischer werden. Die rot-grüne Mehrheit im Bundestag existiert nur noch auf dem Papier. In der CDU-Zentrale feiern sie wild. SPD-Chef Franz Müntefering steht auf der Bühne des Willy-Brandt-Hauses, fängt an zu reden und sagt plötzlich: Der Kanzler und er hätten sich darauf verständigt, Neuwahlen anzustreben. "Die Menschen sollen entscheiden, von wem sie regiert werden wollen." Schröder saß derweil im Kanzleramt, und man kann sich gut ausmalen, wie er langsam mental in seinen Kampfanzug stieg: Wer den Krieg haben will, kann den Krieg kriegen. Kein langsames Siechtum, eine Entscheidungsschlacht. Alles oder nichts. Mehr als verlieren konnte er ohnehin nicht mehr. Also: Risiko.
Und fast hätte er es noch einmal gepackt. Das können nur ganz, ganz wenige. Wenn überhaupt.
Achterbahn mit Champagner
Dass er danach nie in die Rolle des allseits respektierten Altkanzlers gefunden hat, den Putinisten und Gazpromotor gibt, sich die mangelnde Reputierlichkeit mit ordentlich Geld für Vorträge und Lobbyarbeit aufwiegen lässt - geschenkt, zum 70. jedenfalls. Da woll'n wa mal die Kerzen auf der Torte lassen, nur auf die Haben-wir-Spaß-gehabt-Seite gucken und die Was-soll-das-denn-Seite einfach mal ignorieren.
Und Spaß, Vergnügen, Unterhaltung, Aufregung, Abwechslung, all das, was Politik auch so spannend macht - das hatte man mit diesem geborenen Politmonster allemal und immer. Langweilig war es nie. Und manchmal sogar so wild aufregend, dass man die gepflegte Ruhe, die seine Nachfolgerin verströmt, zeitweise sogar genießen konnte. Man muss sich zwischendurch ja auch einmal erholen. Immer nur Schröder, das wäre ein Leben lang: Achterbahn mit Champagner. Oder, lyrischer, mit Hölderlins Hyperion gesprochen: "Vom Bettelstabe bis zur Krone warf es uns auf und ab. Es schwang uns, wie man ein glühend Rauchfass schwingt, und wir glühten, bis die Kohle zu Asche ward."
Mit Schröder gab es immer großes Kino
Franz Müntefering, den Schröder gerne zum Freund gehabt hätte, hat einmal über Angela Merkel geurteilt: "Man kann sich zu ihr ins Flugzeug setzen, wenn sie Pilotin ist. Man wird sicher ankommen. Man weiß nur nicht, wo."
Um ehrlich zu sein: Bei Schröder wusste man auch nicht immer, wo man landen würde - und ob er die Kiste sicher runterbringen würde. Aber es ist dann doch immer wieder ganz gut gegangen. Na ja, meistens. Und auch nur fast. Aber es hat Spaß gemacht.
War Gerhard Schröder ein großer Kanzler? Das sollen andere beurteilen, später, fairer. Die Historiker.
Eines war er auf alle Fälle: Große Klasse. Mit Schröder gab es immer großes Kino. Ganz großes Kino.
Herzlichen Glückwunsch zum Siebzigsten, Herr Altbundeskanzler.
Und wie wir alten Latinos sagen: Ad multos annos!