Editorial Er war ein guter Präsident

Liebe stern-Leser!

Johannes Rau hatte keinen guten Start als Bundespräsident. Das höchste Amt im Staat ist kein politisches Altenteil, und ihm eilte der Ruf voraus, zu alt zu sein und zu verbraucht. Der Publizist Johannes Gross schrieb 1999 vor Raus Wahl im "FAZMagazin": "Demnächst haben wir drei ehemalige Bundespräsidenten - Herzog, Weizsäcker, Scheel - und einen neuen, der schon wie ein ehemaliger aussieht."

Am Ende seiner Amtszeit aber mussten auch Kritiker zugeben, dass Johannes Rau ein guter Präsident war, in eine Reihe gehört mit Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker. Er hatte im Laufe der Jahre Statur gewonnen mit eigenwilligen und eigenständigen Meinungen zum Umgang mit Ausländern und Minderheiten, zum Sozialstaat, zur Sterbehilfe und zur Gentechnologie.

Irgendwie war er einer der Letzten seiner Art, einer der wenigen verbliebenen Vertreter der rheinischen Republik, des Ausgleichs und der gemächlichen Gangart. Die Zustimmung, die er am Schluss erntete, hat sicher auch mit der Sehnsucht nach diesen guten alten Zeiten zu tun. Johannes Rau war ein Menschenfischer, der nichts und niemanden ver-gaß - im Guten wie im Bösen. stern-Autor Andreas Hoidn-Borchers, 45, bekam das immer wieder mal zu spüren. Er hat Rau seit dem Bundestagswahlkampf 1986/87 regelmäßig beobachtet und beschrieben. "Bruder Johannes" konnte begnadet übel nehmen. Vom stern fühlte er sich häufig ungerecht behandelt, ignoriert oder für zu leicht befunden. Er klagte über "publizistisches Mobbing", weil wir seine Kandidatur kritisch beleuchteten, und merkte an, dass "fast zwei Drittel der Deutschen sagen, sie hätten mich gerne als Bundespräsidenten - was manches Blatt verschweigt".

Wie gut Raus Gedächtnis funktionierte, erlebte auch Fotograf Christian Irrgang, 48. Irrgang kellnerte 1975 nach dem Abitur auf Schloss Elmau und bediente dort unter anderen den damaligen NRW-Wissenschaftsminister, der seine Sommerurlaube regelmäßig in dem bayerischen Idyll verbrachte. Zehn Jahre später entdeckte Rau, inzwischen Ministerpräsident, bei einem Rundgang auf der Berliner Funkausstellung Christian Irrgang, mittlerweile freier Pressefotograf. Rau rief, als hätte er ihn erst am Vortag zum letzten Mal gesehen: "Hallo, Christian, wie geht's?"

Seit 1994, Raus erstem Anlauf zum Amt des Bundespräsidenten, hat Irrgang ihn und seine Familie immer wieder getroffen und fotografisch begleitet, in den Ferien auf Spiekeroog und im Schloss Bellevue, auf seinen Reisen durch Deutschland und auch nach Israel. Entstanden sind dabei Nahaufnahmen eines Mannes, der nur sehr wenige an sich heranließ.

Der stern druckt sie zusammen mit einem Porträt von Andreas HoidnBorchers und einem Nachruf von Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement ab Seite 80.

Herzlichst Ihr

Thomas Osterkorn

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