Liebe stern-Leser! Schon vor dem Halbfinale hatte sich Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf eine deutsche Fahne organisiert. Es ist eben nichts schöner als der unverhoffte Erfolg. Und es gibt wohl keine bessere Gelegenheit als eine Fußball-Weltmeisterschaft, um über unserem Sorgen-Staat das schwarzrotgoldene Tuch hochzuziehen. Okay, im Lesen, Schreiben und Rechnen sind wir schwach. Aber im Fußball gehören wir nun zu den Besten. Ist das womöglich eine neue Fußballweisheit: Dumm kickt gut? Nein, es gehört schon ein Mindestmaß an Intelligenz dazu, sich taktisch an die Spitze zu spielen. Kaum eine Mannschaft kann heute noch erfolgreich sein, wenn sie nicht mit „deutscher“ Ordnung spielt. Bemerkenswert ist die ausgelassene Unbefangenheit, mit der die Fans die Vize-Weltmeisterschaft und vor allem ihren tragischen Titan Oliver Kahn (Seite 22 der Printausgabe) gefeiert haben. Als Nation scheint Deutschland nur bei großen Fußballturnieren zu existieren. Die Schicksalsgemeinschaft Nationalelf dient als Symbol eines Volkes, das ohne König und eigene Währung auskommen muss und für säbelrasselnden Hurrapatriotismus nicht mehr zu haben ist. Selbst Gebäude mit nationaler Bedeutung wie der Reichstag oder das Brandenburger Tor haben eher den Charakter von Mahnmalen und spiegeln stets das Gebrochene der deutschen Geschichte. Unser Parlament und unsere Regierung können die Politik unseres Landes nur noch zum Teil bestimmen. Viele und wichtige Entscheidungen fallen in Brüssel. Wo sonst, als beim Fußball, ist Deutschland als Nation überhaupt noch erfahrbar?
Die moderne Gesellschaft ist ein Sammelsurium aus Individualisten. Die traditionellen, auf Solidarität geeichten Großgruppen wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften oder Vereine verlieren an Bindungskraft. Doch bei der Fußball-Weltmeisterschaft konnten wir uns für einen Monat lang als Teil eines Ganzen fühlen. Deshalb war das Motto dieser WM nicht, wir sind wieder wer, sondern wir sind wieder wir. Aber nur kurz, nur bis zum Empfang der Champions auf dem Frankfurter Römer. Die Erregung wird sich bald wieder legen. Darum brauchen wir auch keine Angst vor dem vorübergehenden Ausbruch patriotischer Gefühle in Deutschland zu haben. Fußball ist ein Spiel. Eine WM dauert rund einen Monat. Und genauso ist es mit unserem Patriotismus. Wir spielen unsere nationalen Gefühle nur. Nächste Woche ist es schon wieder vorbei. Und das ist vielleicht auch gut so.
Herzlichst Ihr
Andreas Petzold