Ein Bild und seine Geschichte Der "Bildermann" und die Gang

Von Philipp Gülland
USA, 1959: Während die Nation sehsüchtig zu den Sternen schaut, entdeckt Fotograf Bruce Davidson unbekannte Galaxien direkt vor der Haustür - geduldig und einfühlsam erzählt er die Geschichte der "Jokers", einer Jugendgang in South Brooklyn.

"Die Zeitung schrieb über eine Schlägerei in die sie verwickelt gewesen waren, und ich bin rausgefahren und habe ihnen Bilder von ihren Wunden angeboten, in Farbe." So fing alles an: die behutsame Annäherung an Bengie und seine Gang im New York der späten 50er, das wochen- und monatelange Begleiten und Beobachten, das Leben als "Bildermann" von South Brooklyn und eine unerhört einfühlsame Millieustudie. Selbst erst Mitte 20, ein kleines Appartment mit Dunkelkammer in der Küche - Rotlicht im Kühlschrank - bewohnend, erforscht Bruce Davidson den Alltag der Gang. Deren Anführer Bengie ist sein Zugang in die fremde Welt.

Aus Versehen glamourös

Davidson kann im Viertel bald frei arbeiten. Man nennt ihn den "Bildermann", er wird der Hoffotograf und Chronist von South Brooklyn, verteilt Abzüge und gewinnt so das Vertrauen der Menschen - Stück für Stück. Dabei gelingt ihm diese umfassende und schnörkellos intensive Reportage der "Jokers": Bilder eines Alltags zwischen Underdog-Dasein, Stolz, Wut, Adoleszenz und purer Lebensfreude erzählen ihre Geschichte - eine immer wieder beiläufig, wie aus Versehen, glamouröse Geschichte von Rebellion und einer Reise ohne klares Ziel. Pomade und aufgeschlagene Hemdärmel, Ballspiele auf der Straße und Ausflüge nach Coney Island, Softeis im Stammcafé und Tanzen in Kellerclubs sind die Stationen dieser ungewissen Pilgerfahrt; Fotograf Davidson ihr stiller Reisebegleiter.

Vertraute Fremde Welt

Es sind verschiedene Welten, in denen sie leben: Davidson, in Illinois aufgewachsen, machte schon mit zehn sein erstes Foto, studierte in Yale, wurde später Laborant bei Kodak und arbeitete kurz als freier Fotograf für "Life" bevor er 1958 dem Fotografenkollektiv "Magnum" beitritt.

Bengie und seine Freunde sind New Yorker "Kiezkinder" - in Brooklyn geboren und aufgewachsen sind die Straßen und Häuserblocks des Stadtteils ihre Heimat, Bühne eines rauen Alltags. Trotzdem fassen sie bald Vertrauen zueinander. Vertrauen, das Davidsons Arbeit erst ermöglicht. Der Fotograf erinnert sich später an eine seiner ersten Begegnungen mit Bengie: "Er war ein brillanter Augenmensch. Er nahm mich mit auf dieses Dach und ich weiß heute noch, wie ich dachte 'der Junge stößt mich gleich hier runter und raubt mich aus", aber er zeigte nur runter auf die Ball spielenden Jungen und sagte: 'Fotografier das.'" Dann setzte er hinzu 'Oh, da drüben kann man die Freiheitsstatue durch die ganzen Fernsehantennen sehen.'"

Beide Bilder werden später Bestandteil der Reportage. Das Eis ist gebrochen und keinen stört es, wenn Davidson der Bande wie ein Schatten folgt und ihren Alltag zwischen Langeweile, kindlicher Unschuld und rebellischem Aufbegehren dokumentiert. Dabei geht er sehr behutsam vor: "Ich wollte dem Akt des Fotografierens eine bestimmte Würde verleihen. Keine 'wahrhaftige Kamera', die mit lautem Motor Bilder an sich reißt. Ich wollte nicht spionieren oder eindringen." Bringt er das Credo seiner Arbeit einmal auf den Punkt.