Arktisches Eis Wieso riskieren Narwale ihr Leben scheinbar so leichtfertig?

  • von Karoline Stürmer
Eine Gruppe Narwale aus der Luft fotografiert
Narwale leben in Gruppen von etwa fünf bis 20 Tieren. Ihre Wanderungen unternehmen sie oft in größeren Verbänden
© Imago Images
Narwale leben dort, wo das Meer gefriert. Das arktische Eis bietet ihnen Nahrung und Schutz – es kann aber manchmal auch zur tödlichen Falle werden.
 

Die Luft wird knapp. Mit Wucht rammt der Narwal seinen Kopf gegen die Scholle. Aber die ist zu dick, das Eis knarzt nur. Noch ein dumpfer Stoß. Es hilft nichts, der Wal gibt auf – und schwimmt eilig davon. Wenn er es in den nächsten Minuten nicht schafft, zum Atmen an die Wasseroberfläche zu gelangen, wird er ersticken. Und mit ihm seine sieben Gefährten, die ebenso emsig das Eis nach Schwachstellen abklopfen.

Eine Gruppe Narwale schwimmt durch das Meer in Baffin Island, Nunavut
© Eric Baccega / Imago Images

Steckbrief: Narwal

Allgemein: Narwale (Monodon monoceros) sind fast nur in den arktischen Gewässern nördlich des Wendekreises zu Hause. Zusammen mit den Belugas bilden sie die Familie der Gründelwale.

Größe und Gewicht: Als mittelgroße Walart messen Narwale etwa vier bis fünf Meter. Bei Männchen, selten auch Weibchen, kommt der bis zu drei Meter lange Stoßzahn hinzu. Sie wiegen bis zu 1600 Kilogramm, so viel wie ein Pkw.

Nahrung: Sie ernähren sich ausschließlich von Fischen und anderen Meerestieren, vor allem von Schwarzen Heilbutten, Polardorschen und Garnelen. Bis zu 30 Kilogramm davon verspeist jedes Tier pro Tag.

Nachwuchs: Ein Weibchen ist 14 Monate trächtig und bringt ein einzelnes Kalb zur Welt. Das misst bei seiner Geburt bereits etwa 1,60 Meter. Rund 20 Monate bleibt es nah bei seiner Mutter und wird mit der fettreichen Milch gestillt.

Narwale in ihrem Lebensraum

Narwale leben immer am und unter dem arktischen Eis. Im Sommer wagen sie sich sogar weiter nach Norden als jedes andere Säugetier. Tief in den Fjorden der Baffinbai an der Westküste Grönlands jagen sie nach Polardorschen. Ganze Schwärme treiben sie zusammen und zwingen sie dann mit heftigen Flossenschlägen an die Wasseroberfläche. Durch das schnelle Auftauchen verlieren die Fische das Bewusstsein, und die Wale können zuschlagen.

Narwale, die durch Packeis schwimmen, Baffin Island, Nunavut, Kanada, Nordamerika
Mit ihren Stoßzähnen fechten die Bullen aus, wer der Kräftigere ist. Der Sieger darf sich mit den Weibchen der Gruppe paaren
© Eric Baccega / Imago Images

Aber nun, Mitte Oktober, ist bereits der Winter über die Arktis hereingebrochen. Innerhalb weniger Tage hat sich Eis wie ein Flickenteppich über das Meer gelegt. Nur einige Atemlöcher sind den Walen geblieben – zu wenige, um die nächsten Monate in diesem Gebiet zu überleben.

Die Narwal-Gruppe hat dies erst spät bemerkt. Nun gibt es für sie nur einen einzigen Rettungsweg: Sie muss weiter im Süden des Polarmeeres offenes Wasser finden oder zumindest dünneres Eis, das die Tiere mit ihren Köpfen durchbrechen können. Wieso, fragt man sich, riskieren die Narwale ihr Leben scheinbar so leichtfertig? Warum suchen sie die Nähe des Eises, obwohl sie stets Gefahr laufen, darunter zu ersticken?

Ganz einfach: Dieses Revier macht ihnen kaum jemand streitig. Dass sie im Gegensatz zu den meisten anderen Walen keine Rückenflosse besitzen, erleichtert ihnen ihre Beutezüge direkt unter dem Eis. Und darum sind sie hier auch vor ihren ärgsten Fressfeinden sicher – den Orcas. Außerdem besitzen die Tiere ein verblüffendes Gespür für Atemlöcher: Wenn die Küstengewässer zufrieren, wissen Narwale eigentlich sehr genau, wo das Eis im Spiel der Winde und Strömungen undurchdringlich dick zusammenwächst und wo mit einem ordentlichen Kopfstoß ein Durchkommen zum Luftholen noch möglich ist.

Narwale, die durch Packeis schwimmen, Baffin Island, Nunavut, Kanada, Nordamerika
An den Rillen im Packeis sammeln sich die Narwale zum Luftholen. Doch dort lauern ihnen oft Eisbären auf …
© Eric Baccega / Imago Images

Diesmal aber hat sich die Eisdecke ungewöhnlich schnell geschlossen. Zum Glück sind die Narwale gute Taucher: 15 Minuten können sie ohne zu atmen unter Wasser verharren und auf der Jagd nach Fisch in Tiefen von über 1500 Meter abtauchen.

Mit starken, gleichförmigen Flossenschlägen gleitet die Gruppe der fast fünf Meter langen und bis zu 1600 Kilogramm schweren Wale nun unter dem Eis entlang.

Zwei Narwale schwimmen unter Wasser
© Adobe Stock

Auf den Zahn gefühlt

Im Gegensatz etwa zum Horn eines Hirschgeweihs ist der Zahn des Narwals vielschichtiger. Die äußere Hülle bildet das Zahnzement, das trotz seiner Bezeichnung relativ weich ist. Den größten Teil macht das Dentin aus, auch "Zahnbein" genannt. In der Mitte liegt der Kern, das Zahnmark. Der ganze Zahn ist mit rund 10.000 Nervensträngen durchzogen. Das lässt vermuten, dass die Männchen damit die Temperatur oder den Salzgehalt des Wassers messen können und diese Informationen sogar wie mit einer Antenne weiterleiten

Dass es sich um Männchen handelt, ist schon von Weitem zu erkennen: Von wenigen Weibchen abgesehen, besitzen nur sie jene bis zu drei Meter langen Stoßzähne, die die Tiere so berühmt gemacht haben. Und so begehrt: Bis ins 17. Jahrhundert hinein verlangten Kaiser und Könige nach den Zähnen. Die gierigen Adligen glaubten, dass die Wale nahe Verwandte des legendären Einhorns wären – und die "Hörner" der Narwale darum famose Zauberkräfte besitzen müssten.

Zeitweilig waren sie darum das Zehnfache ihres Gewichts in Gold wert; noch heute werden die Tiere deswegen gejagt. Dabei sagt man ihnen schon lange keine Wunderkräfte mehr nach. Forschende wissen inzwischen, wie der Zahn aufgebaut ist (siehe Kasten). Und dass Narwale mit ihm die Temperatur des Wassers messen können, vielleicht sogar den Salzgehalt. Um Schollen zu durchstoßen taugt er allerdings nicht. Er bricht viel zu schnell.

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Nacheinander rammen die acht Narwale ihre Schädel gegen das Eis. Wieder und wieder. Dann endlich knackt es. Ein Riss weitet sich, und weiße und grau gesprenkelte Rücken stoßen gemeinsam eine Platte aus dem Eisteppich. Dicht an dicht drängen sich die Wale für die nächsten Atemzüge. Für einen Moment scheint das Wasserloch zu kochen, bis die Wale unter Gurgelgeräuschen wieder abtauchen – und unter dem Eis der Arktis verschwinden.

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