Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sagt Herman Hesse - ja, aber auch gleichzeitig ein Ende. Auch mein eigener Anfang bedeutet mein eigenes Ende. Ich bin nur ein Teil dieses flüchtigen, endlichen Daseins aus unzähligen Momenten, die anfangen und zu Ende gehen. Momente voller Dinge, die ebenso flüchtig und endlich sind wie ich selbst. Nichts ist sicher, außer der Tatsache, dass nichts sicher ist. Diese Fragilität von allem und mir selbst ist so beängstigend, dass ich manchmal nicht schlafen kann. Und gleichzeitig ist sie alles, was ich habe, und damit das kostbarste und damit auch wunderschön.
Aber bei aller Schönheit: Wenn alles flüchtig ist und nichts Bestand hat, sollte ich dann nicht lieber einfach glauben, dass Liebe auch nur flüchtig ist und in Collagen aus Momentaufnahmen stattfindet?
Zumal ich mehr Anhaltspunkte für die Desillusion als für die Illusion habe: Ich kenne niemanden persönlich, der noch in seiner ersten Beziehung ist. Dafür kenne ich sehr, sehr, sehr viele, die schon betrogen wurden oder haben, und immer weniger Elternpaare, die nicht getrennt sind. Viele Großelternpaare sind noch zusammen, ja, aber wenn ich mich so umhöre, ist das nicht wirklich eine Hoffnungsflagge, sondern das Resultat eines anderen Zeitgeistes.
Damals und heute
Denn über früher sagen die Leute: "Früher war alles anders. Da musste man ja an die Liebe glauben, um eine materielle Sicherheit zu haben. Da hatte man kaum Möglichkeiten und vor allem kein Internet, da war das ja noch krass, wenn man ins Ausland telefoniert hat. Da hatte man halt einen(!) festen Job, einen(!) Wohnort und einen(!) Partner. Und sonst hatte man fast nichts. Da musste man sich zusammentun, um etwas mehr zu haben als fast nichts. Da ging es nicht um Zufriedenheit, da war das einfach so."
Und über heute sagen die Leute dann: "Heute ist nichts wie früher. Alle haben das Gefühl, sich andauernd selbst optimieren zu müssen, alle sind jeden Tag besser und dadurch nie gut genug. Eigentlich ist nichts gut genug, auch nicht in Beziehungen. Es gibt keine Grenzen, dafür Orientierungslosigkeit und Erwartungsdruck. Alle wollen Halt, aber keiner will jemanden halten. Alles ist möglich, aber keiner will sich entscheiden. Keiner weiß, wohin, geschweige denn, wohin er gehört. Heute kann man tausende(!) Jobs, tausende(!) Wohnorte und tausende(!) Partner haben. Und auch sonst kann man absolut alles haben. Da muss man sich höchstens zusammentun, um etwas weniger zu haben als alles, aber insgeheim hat man ja dann trotzdem irgendwie noch alles, nur nicht mehr den Zugang dazu."
Julia Engelmann
Wurde 1992 geboren, wohnt in Bremen und studiert heute Psychologie. Seit einigen Jahren nimmt sie regelmäßig an Poetry Slams teil. Ein Video ihres Vortrags "One Day" beim Bielefelder Hörsaal-Slam wurde zum Überraschungshit im Netz 2014 und bisher millionenfach geklickt, geliked und geteilt. Anfang 2014 ging sie mit Tim Bendzko auf Tour. Neben dem Slammen gilt ihre Leidenschaft der Musik und der Schauspielerei - mehr als zwei Jahre spielte sie in der Soap "Alles was zählt" mit. Ihr Buch "Eines Tages, Baby" ist 2014 im Goldmann Verlag erschienen und schaffte es Anfang 2015 auf die "Spiegel"-Bestseller-Liste. (Foto: Marta Urbanelis)
Auf der Suche nach etwas Größerem
Ja, früher war natürlich alles anders, und jedes neue "früher", das später mal kommt, wird auch wieder anders gewesen sein, weil immer alles irgendwie anders ist, weil eben nichts sicher ist, außer der Tatsache, dass nichts sicher ist. Und ja, vielleicht sind die Rahmenbedingungen und Herausforderungen jeder Generation und Zeit variabel, aber das bedeutet nur, dass sie vielleicht einen flexiblen und anderen Umgang erfordern, aber deswegen muss man doch nicht alles in Gut und Schlecht unterteilen. Niemals war alles besser.
Bei allen Veränderung haben alle Menschen dabei eine konstante Gemeinsamkeit: das Bedürfnis und die Suche nach etwas Größerem als sich selbst, nach etwas, dass unendlich ist inmitten aller flüchtigen Endlichkeit. Das Bedürfnis nach Halt, einem festen Zuhause und Liebe.
Und wenn ich nachts wegen der Fragilität und Unbeständigkeit der Dinge nicht schlafen kann, dann sehne ich mich genau danach. Ich sehne mich dann nach nichts mehr als nach etwas, das größer ist als ich, das die Zeit überdauert und das mir Hoffnung auf Unendlichkeit macht.
Naiv, aber tröstlich
Und genau deswegen glaube ich auch daran, dass es das gibt, obwohl ich eigentlich nicht daran glaube, dass irgendetwas für immer ist. Weil die Vorstellung davon so gut tut, dass sie das Festhalten daran und die Suche danach rechtfertigt. Weil diese Vorstellung die Fallhöhe wert ist, die zwei Menschen eingehen, wenn sie sich auf Liebe und einander einlassen mit der Prämisse, dass sie für immer sein soll, obwohl sie wissen, dass das gar nicht geht – oder zumindest, dass das fast gar nicht geht. So tollkühn zu sein, diese Fallhöhe zu akzeptieren, das ist für mich das Gegenteil vom Gegenteil von Liebe. Und die Hoffnung darauf ist das Kryptonit meines Realismus.
Vielleicht ist es naiv von mir, daran zu glauben und vielleicht ändert sich meine Meinung in zwei Tagen oder in 20 Jahren, bestimmt sogar, weil sich ja alles verändert. Vielleicht finde ich dann auch raus, dass ich das alles gar nicht oder in mir selbst finden kann. Aber vielleicht ist mir das gerade egal, weil ich es nämlich echt mag, daran zu glauben.
Mein Soundtrack zum Text: "I'll Be Good" – Jaymes Young Scherzkekse hören: "Fuck Forever" - Babyshambles