Mein Bruder hatte mir einmal die Theorie des Limits erklärt. Er sagt, jeder Cop, der in der Mordkommission arbeite, habe ein Limit, aber dieses Limit sei ihm unbekannt, bis er es erreicht habe. Er redete über Tote. Sean war überzeugt, dass jeder Cop nur soundso viele Tote ertragen konnte. Die Zahl lautete bei jedem anders. Manche klappten schon früh zusammen. Andere gehörten der Mordkommission zwanzig Jahre lang an und kamen nicht einmal in die Nähe des Limits. Aber eine Zahl gab es immer. Und wenn sie erreicht war, dann war Schluss."
(Michael Connelly, "Der Poet")
Mit Serienkillern hatten wir in dieser Krimi-Edition schon häufiger zu tun. Aber dieser Mann stellt die meisten Konkurrenten locker in den Schatten. Der "Poet", jener geheimnisvolle Mörder aus der Feder des amerikanischen Bestsellerautors Michael Connelly, ist ein besonders fieser und beunruhigender Killer: intelligent, gerissen, grausam, brutal - und mit jeder Menge Insiderwissen aus dem Polizeiapparat. Was ihm einen ungeheuren und ungeheuerlichen Vorsprung verschafft; "Der Poet" spielt Katz und Maus mit den Ermittlern, die mehr und mehr verzweifeln.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Polizeireporters Jack McEvoy. Der Tod ist für ihn beinahe alltäglich. Doch als er direkt betroffen ist, wirft ihn der Schock schier aus der Bahn. Jacks Zwillingsbruder Sean, der bei der Polizei in Denver arbeitet, ist tot. Angeblich hat der Detective der Mordkommission sich umgebracht. Aber McEvoy glaubt nicht an Selbstmord und beginnt zu recherchieren. Schnell stößt er auf ähnliche Fälle im ganzen Land. Stets handelt es sich um Polizisten, die besonders grausige Morde aufzuklären versuchten und sich während der Ermittlungen - scheinbar traumatisiert - selbst töteten. Bei jedem der Toten fanden sich Verse des Dichters Edgar Allan Poe.
stern Krimi Bibliothek
Michael Connelly: "Der Poet", 6,95 Euro im Handel. Die gesamte Edition gibt es bei stern.de für 129 Euro.
Die Gemeinsamkeiten der Fälle überzeugen schließlich auch das FBI. Die Jagd wird zur Staatsangelegenheit, und der Täter heißt von nun an "Der Poet". Die entscheidende Frage, das wird allen Beteiligten und uns dann sehr deutlich, lautet: Warum wird jede Tat erst aufwendig als Selbstmord inszeniert, um dann trotzdem eine Botschaft für die Ermittler zurückzulassen?
Michael Connelly, Jahrgang 1956, weiß, wovon er schreibt. Der weltweit erfolgreiche Autor hat 13 Jahre lang selbst als Polizeireporter gearbeitet und kennt die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden genau. Und das merkt man seinen Büchern an. Connelly verbindet die klassischen Strukturen harter amerikanischer Krimis mit seinen eigenen Erfahrungen an der Ermittlungsfront. In der Reihe seiner inzwischen 17 Romane ist "Der Poet" einer seiner allerbesten. Auf uns hatte er eine verdammt lang anhaltende Wirkung; dies ist ganz sicher ein Krimi, den auch Sie nicht mehr vergessen werden.
Unser Fazit: Der Leser ermittelt atemlos mit. Packend, vielschichtig, intelligent - ein großer Wurf des amerikanischen Top-Autors Michael Connelly.