Seine Gedichte hängen zu Hunderten in U-Bahn-Stationen, an Bäumen und Baugerüsten. Jedermann soll eins "pflücken" und mitnehmen. Seit 30 Jahre klebt der 52-jährige Helmuth Seethaler seine Lyrik direkt in die Öffentlichkeit - und zieht damit den Ärger der Wiener Behörden auf sich.
"Damit erreiche ich auch diejenigen, die sonst nie lesen"
Der Dichter verwendet Doppelklebeband. Innerhalb weniger Sekunden hat er die Säule in der U-Bahnstation Stephansplatz eingewickelt und beginnt eifrig, seine bedruckten Zettelchen darauf zu kleben. Darunter mindestens zwei bis drei Mal pro Säule die Aufforderung "Pflück dir ein Gedicht". Im Vorbeigehen schauen Leute fragend herüber, einige bleiben stehen und lesen und pflücken Gedichte. "Meine Kunst kann jeder haben", sagt Helmuth Seethaler. "Damit erreiche ich auch diejenigen, die sonst nie lesen."
Nach dem Abitur veröffentlichte Seethaler 1974 erste Gedichte in einem Buch. Doch er wollte die Menschen direkter ansprechen und begann, seine meist sozialkritische Lyrik an die Wände Wiens zu kleben. Das aber brachte Polizei, Wiener Verkehrsbetriebe, Stadtverwaltung und Privatpersonen auf den Plan: Sie haben Seethalers Werke immer wieder abgerissen und ihn angezeigt, unter anderem wegen vorschriftswidrigen Plakatierens, Sachbeschädigung und Verunreinigung. Über 2000 Anzeigen hat er sich so eingehandelt. Abgesehen von etwa zehn Verurteilungen wurde er in allen anderen Fällen jedoch in zweiter Instanz freigesprochen.
Vom Staat verfolgt, vom Staat gefördert
Das Kuriose an der Sache: Zwar entfernen die Behörden regelmäßig Seethalers Gedichte und halsen sich durch die Prozesse gegen ihn Kosten auf, doch gleichzeitig bezuschussen sie ihn. Zwar lebt der "Zettelpoet" vor allem von der finanziellen Unterstützung von etwa 2500 seiner Fans und Förderer. Doch auch der Staat gewährt ihm - wenn auch unregelmäßig - Literaturstipendien in der Höhe von etwa 1000 Euro im Jahr. Seethaler kann nach eigenen Angaben sogar seine polizeilichen Anzeigen als Arbeitsbelege vorlegen.
Wenn das Geld knapp wird, bezuschusst ein staatlicher Künstler-Sozialfond Seethalers Mietzahlungen. Außerdem erhält er etwa 1000 Euro jährlich für Reisekosten. "Man hat mich unter anderem schon nach Paris, Budapest und zur Buchmesse in Frankfurt exportiert", erzählt der Dichter. Auch dieses Jahr hofft er auf Unterstützung vom Staat, wenn er im August mit seiner Zettelpoesie für vier Wochen nach Berlin reist.
"Die Reaktionen in Deutschland waren bisher immer toll, und Probleme wie in Wien hatte ich nie", sagt Seethaler. So brauche er ab und zu eine Reise um sich von und für Wien zu erholen. Denn nicht nur die Behörden sehen seine Arbeit kritisch. Drei Mal wurde er bereits körperlich angegriffen, oft wird er von Passanten beschimpft.
"Zermürbt, fertiggemacht, gedemütigt von Polizei-Kunstexperten"
"Der Wiener sucht halt etwas zum Nörgeln. Früher hat das wehgetan, aber heute genieße ich es", sagt Seethaler. Schließlich beschwert er sich als Wiener auch selbst gern. Auf einem Zettel der neben den Gedichten klebt, schreibt er in dicken Lettern: "Ich kann nicht mehr. ZERMÜRBT, FERTIGGEMACHT, GEDEMÜTIGT von Polizei-Kunstexperten." Dabei waren die vergangenen Jahre für ihn sehr ruhig. Seitdem der oberste Gerichtshof Österreichs 1998 seine Zettelgedichte als Kunst anerkannt hat, wird er immer seltener angezeigt.
"Wenn etwas hängt, wird es entfernt, aber nicht zur Anzeige gebracht", sagt Sandra Stehlik aus der Pressestelle der Wiener Verkehrsbetriebe. Stefan Kittinger, bei der Wiener Polizei für die Plakatierungsverordnung zuständig, sagt: "Im letzten Jahr hat es vielleicht zehn bis fünfzehn Verfahren gegen Herrn Seethaler gegeben, mehr nicht."
Doch Helmut Seethaler fürchtet neue Drangsalierungen: "Der Verfassungssenat hat mich vorab informiert, dass es bald ein neues Plakatierungsgesetz geben wird", sagt Seethaler. Und was, wenn das Ankleben seiner Gedichte durch das neue Gesetz wieder verboten wird? "Dann werde ich noch fleißiger sein als bisher."