Lachen Sie mich aus, aber für mich fühlt es sich an, als hätte er gemerkt, dass für ihn kein Platz mehr ist in dieser Welt, die sich unerbittlich weiterdreht. Der Held, den zu verkörpern und zu verteidigen er zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, diese in einfachen, geraden Strichen gezeichnete Figur des edlen Kriegers mit seinen Prinzipien von Freundschaft und Gerechtigkeit wirkte schon lange unpassend, altmodisch. Eine Silberbüchse kann nichts mehr ausrichten in einer Welt, in der das Ich vor allem anderen steht und die Feigheit zur Etikette geworden ist, ein edler Krieger, der Eindringlinge in seine untergehende Welt verschont, wo es geht, muss zwangsläufig verlieren im Einsatz gegen die lärmenden Horden des IS, raffende Finanzspekulanten und den selbstgerechten Mob im Netz. Wir haben keine Geduld mehr für lange Blicke über die Prärie, keine Zeit für Ansprachen, bevor der erste Schuss fällt.
Der Tod von Pierre Brice fügt sich in mein düsteres Gedankenbild wie ein letztes Mosaiksteinchen: Unsere Welt wird schlechter. Und alles, was ich von Winnetou gelernt habe - damals, als die Gerechtigkeit zwar nicht immer siegte, es aber immerhin als erstrebenswert galt, gerecht zu sein - zerschellt an dieser Welt wie ein Boot an der Klippe.
Ach, ich bin ungerecht. Und kindisch. Und rührselig, man mag es mir verzeihen an diesem Tag der Trauer um verflossene Jugendträume. Auch in den Siebziger Jahren gab es Terror und Feigheit und rasanten Wandel und Menschen, die sagten, früher wäre alles besser gewesen und deren Gesicht dann stets diesen trotzigen Ausdruck annahm. Die Menschen waren zu keiner Zeit anständiger, die Gesellschaft nicht besser, das Grauen kam in Wellen und erwischte fast jede Generation. Was anders ist, das bin ich. Mein Glaube, die Welt ließe sich verändern und die Menschheit mit ihr, der ist erloschen, und ich bin selbst ganz überascht, dass es mir so lange nicht aufgefallen ist. Bin ich nicht selbst längst weitergezogen und habe mein Ich vor alles andere gestellt? Ich selbst bin doch die Welt, die sich weiterdreht und an den Mann, der Winnetou war, schon seit Jahren nicht mehr gedacht hat.
Das Bild von Winnetou, dem Film-Winnetou meiner Kindheit jedenfalls, hängt vor meinem heutigen Ich wie ein vergilbter Bravo-Starschnitt. Natürlich war die Botschaft viel zu einfach, das Fantasiekostüm fast lächerlich, die Verblüffung groß, als der Apachenhäuptling, dessen Stimme im Film weich und melodisch klang, bei den Karl-May-Festpielen plötzlich im dröhnenen Bariton fragte: "Was 'aben eusch diese waißen Siedlär götan?" Aber als Kind war mir das egal. Winnetou war mein Vater, der den leeren Platz im Herzen eines sozial isolierten Scheidungskindes fast lückenlos ausfüllte. Ich lernte von ihm, dass man sich für Gerechtigkeit einsetzen muss, selbst wenn es das eigene Leben kostet und der Kampf umsonst ist - aber was ist schon der Tod, wenn Lex Barker neben einem kniet und deine Geschichte an den Lagerfeuern weitergeht?
Die Zeiten ändern dich, ohne dass du es merkst. Nur, wenn das längst vergessene Gesicht des Helden deiner Kindheit noch einmal in dir aufflackert, um dann endgültig zu erlöschen, dann fällt dir die Lücke in deinem Herzen auf. Und du musst schlucken, weil du plötzlich wieder weißt, wie es sich anfühlte - damals, als du in trotzige oder schlicht abgeklärte Erwachsenengesichter schautest und zu dir sagtest: So werde ich nie.