Ich hörte Straßengeräusche am anderen Ende der Leitung, als Paula Hansen mich anrief: »Ich bin in der Telefonzelle«, schrie sie in den Hörer, »ich brauche einen Termin bei Ihnen, so schnell es geht.« Paula, 35, Angestellte im Marketing eines E-Commerce-Anbieters, war immer mal wieder zum Coaching zu mir gekommen. Ich war allerdings etwas erstaunt, dass es ihr jetzt so eilig war. Wir vereinbarten Uhrzeit und Datum. »Auf gar keinen Fall eine Bestätigung per E-Mail schicken«, rief Paula. »Mein Chef sieht alles.«
Der Chef darf E-Mails kontrollieren
Beim verabredeten Termin erzählte mir Paula, warum sie so paranoid wirkte und für die Verabredung mit mir nicht ihr Bürotelefon oder Diensthandy nutzen wollte. Eine dumme Geschichte. Ihre Firma hatte ein Designerkleid, das normalerweise 499 Euro kostete, für 4,99 Euro auf die Webseite gestellt. Es dauerte keine Stunde, da war das Kleid vergriffen. Zweihundert Menschen hatten es bestellt. Natürlich erkannte der Geschäftsführer den Fehler und beschloss, das Kleid nicht zu versenden, stattdessen jedem Besteller einen persönlichen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Als der Chef den 74. Brief mit den besten Grüßen unterschrieb, stutzte er: Die Adressatin – war das nicht Paula Hansen? Und Britta Wessel, ihre Kollegin? Insgesamt hatten acht Mitarbeiter das Kleid bestellt. Alle bestritten, gewusst zu haben, dass es sich beim ausgewiesenen Preis um ein Versehen handelte. Dem Chef ließ das Ganze aber keine Ruhe. Gemeinsam mit der Personalleiterin, dem IT-Leiter und der Betriebsrätin beschloss er, den Mailverkehr der acht Verdächtigen zu sichten. Solche stichprobenartigen Kontrollen sind erlaubt, wenn ein Anfangsverdacht besteht. Natürlich wurde der Chef schnell fündig. Paula hatte den Fehler als Erste entdeckt und in einer E-Mail mit dem Betreff »Wer will noch mal, wer hat noch nicht?« zwei Kolleginnen aufgefordert, doch ebenfalls das edle Teil zu kaufen. Letztlich ging die Sache für Paula einigermaßen glimpflich aus. Ich half ihr dabei, einen Entschuldigungsbrief zu schreiben, sie bekam eine Abmahnung.
Naivität im Internet
Mal abgesehen davon, dass man als Angestellter nicht bewusst der eigenen Firma schaden sollte: Ein wenig überrascht war ich schon von Paulas Naivität. Das Internet ist eben kein privater Raum, zu dem die Firma in keinem Fall Zutritt hat. Wer in den üblichen Bürozeiten permanent unter Klarnamen in Fußballforen postet, könnte verdächtigt werden, sich bei der Arbeit leicht ablenken zu lassen. Und mir ist auch mal ein Bewerber untergekommen, der auf Amazon beinahe ausschließlich und mit höchstem Eifer konfuse Verschwörungsliteratur rezensierte und dazu eigene Theorien postete.
Junge Leute machen sich ja gerne über »digitale Einwanderer« wie mich lustig, die nicht mit Internet und moderner Technik aufgewachsen sind. Ich glaube aber, dass sich auch die Ureinwohner des Internets schlecht auf ihrem eigenen Kontinent auskennen und viel zu wenig wissen über Abgründe, Untiefen und Gefahren: Man kann sich hier leicht unmöglich machen, oder zumindest ein bisschen lächerlich. Paula Hansens übervorsichtige Phase hielt nur kurz an. Vor zwei Wochen hat sie mir per Mail das Video eines Teddybären geschickt, der zu lasziver Musik strippt. Als ich ihr ein Fragezeichen zurücksandte, antwortete sie: »Sorry, war für meinen Freund, ging aber versehentlich an alle meine Kontakte.«

Dieser Text ist in der Ausgabe 01/16 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen. Eine Übersicht aller »Einstellungssachen« findet ihr hier.