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Winterreise nach Finnland Der Sohn ist Fotograf, der Vater dement. Das ist die Reise ihres Lebens

Die lange Reise nach Norden: Über verschneite Landstraßen in Schweden geht es bis zur Hütte in Finnland.
Die lange Reise nach Norden: Über verschneite Landstraßen in Schweden geht es bis zur Hütte in Finnland.
© Hauke Dressler
Ein letztes Mal brechen sie zu einer gemeinsamen Reise auf: Hauke Dressler und sein an Demenz erkrankter Vater. Ihr Ziel ist eine Hütte in der finnischen Wildnis – der Ort, an dem sie viele Sommer verbrachten, als der eine noch ein Kind und der andere ein junger Abenteurer war.
Protokoll: Andreas Wenderoth

Zu Weihnachten schenke ich meinem Vater ein illustriertes Kinderbuch, das die winterliche Reise eines samischen Mädchens durch Lappland zeigt. Mein Vater, ehemals Architekt und erfolgreicher Fotograf und immer noch vor allem ein optischer Mensch, ist begeistert, und ich frage ihn: "Wollen wir das nicht zusammen machen?" Durch verschneite Landschaften fahren, Rentiere und das Nordlicht sehen und zu jenem Ort zurückkehren, an dem unsere Familie früher ihre Sommer verbrachte? "Ja", sagt mein Vater. "Warum nicht?"

Dass wir mit einem Land Rover fahren würden, war eigentlich klar. Aus fotografischen Gründen, aber auch, weil der Wagen, wie ich finde, eine Art Entsprechung zu meinem Vater ist. Etwas, das hakt und alt und irgendwie kantig ist, aber Charakter hat. Mit dem Auto würde ich jederzeit zurückfahren können, wenn etwas schiefgehen sollte. Außerdem schafft es uns eine bewegliche Heimat. Jedenfalls hoffte ich, mein Vater würde das auch so sehen. Seitdem er dement ist, kann man das oft nicht so genau wissen.

Unsere letzte gemeinsame Reise liegt mehr als 30 Jahre zurück

Vor vier Jahren wurde das MRT gemacht, das deutliche Lücken in seinem Gehirn zeigte. Da war er bereits auf seiner eigenen Reise, auf der ich ihm nicht folgen kann. Obwohl er immer noch rüstig und überwiegend gut gelaunt ist, müssen nun andere sein Leben für ihn organisieren. Bei Demenzkranken bleiben die Emotionen länger als die Erinnerungen. Mit dem Wagen erhoffte ich mir deshalb mehr emotionale Anknüpfungspunkte als von einer vollklimatisierten Limousine, die das Reisen so viel weniger spürbar macht. Früher war mein Vater ja ein großer Reisender gewesen. Das Reisen habe ich von ihm gelernt. Damals, als ich noch sein Fotoassistent war und wir durch Indien und die halbe Welt fuhren.

Natürlich hatte ich zunächst den Hausarzt gefragt, ob er meinem Vater die Reise zutraue. "Ihr macht das!", befand der: "Halte ihn warm, gib ihm genug zu trinken, und sorge dafür, dass er genug schläft, dann hält er die Reise durch." Danach ging ich mit meinem Vater in einen Outdoor-Laden und kaufte ihm die wärmste Hightech-Kleidung, die zu haben ist. Er freute sich, denn es friert ihn schnell. Dann sagte ich den Pflegedienst ab, der ihn normalerweise zweimal am Tag besucht, ihm Tabletten gibt und ihn wäscht. Und auch der Frau, die ich dafür bezahle, damit er Frühstück und Abendbrot bekommt.

Verloren im Altbekannten: Fritz Dressler in der Hauptstraße des samischen Ortes Jokkmokk, durch den er früher häufig zu seiner Hütte reiste 
Verloren im Altbekannten: Fritz Dressler in der Hauptstraße des samischen Ortes Jokkmokk, durch den er früher häufig zu seiner Hütte reiste 
© Hauke Dressler

Mitte Februar fahren wir los. Ich habe keine Hotels gebucht, denn schließlich weiß ich nicht, wie weite Strecken ich meinem Vater zutrauen kann. Genau genommen ist es ein Versuch, der natürlich auch scheitern kann. Unsere letzte gemeinsame Reise liegt immerhin mehr als 30 Jahre zurück. Dazwischen gab es eine große Entfremdung. So ist diese Reise auch der späte Versuch einer Wiederannäherung. Eine Aussöhnung auf der Zielgeraden.

Vor zweieinhalb Jahren ist meine Mutter gestorben, erst seit kurzem nenne ich meinen Vater wieder "Papi". Die Zukunft eines Demenzkranken ist seine Vergangenheit. Je weiter sie zurückliegt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich noch daran erinnern kann. Und so soll unsere zwölftägige Fahrt zu einem Ort führen, der wie kein anderer für die Jugend meines Vaters steht: jenem Blockhaus in Lappland, 2500 Kilometer entfernt, das er Mitte der 1960er-Jahre mit drei Freunden aus Detmold baute, nachdem sie die Halbinsel Juurakkoniemi für schlappe 1000 Mark einem Samen abgekauft hatten. Das Geld dafür hatte mein Vater durch seine beiden Jobs gespart: Er spielte damals in einer Tanzcombo Schlagzeug. Nebenbei sammelte er Munition und Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg.

Übernommen aus: "WALDEN", Heft 04/2017, ab sofort am Kiosk zum Preis von 7,50 Euro.

Mein Vater hatte Ethnologie studiert und wollte die Welt entdecken, oder zumindest Nordamerika. Lappland lag sozusagen auf dem Weg. Sein eigener Vater war 1947 an den Kriegsfolgen gestorben, und so war sein Abenteuertum – wie bei vielen dieser Generation – vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es keinen Mann gab, der ihm etwas vormachte. Oder Grenzen setzte. Er war sein eigener Maßstab.

Ein Lebemann, verwegen und äußerst charmant, wenn es die Situation erforderte

Schon vorher war er oft nach Nordfinnland getrampt. Manchmal ohne einen Pfennig in der Tasche. Er hatte die Mitternachtssonne gesehen, die nördlichen Krüppelwälder durchstreift, Moskitoschwärmen getrotzt und Freunde am Lagerfeuer gewonnen. Im Grunde unternahm er immer verrückte Reisen, mit einem Opel Admiral nach Bagdad zum Beispiel. Aber in jenem Sommer war es etwas anderes: Er wollte einen Pflock in die Erde hauen. Ein Wildwest-Traum, der nach Abenteuer und Freiheit roch und dem Wunsch, nie erwachsen zu werden. Das war damals einfach das Absurdeste, was man sich vorstellen konnte. Und genau deshalb hat er es gemacht.

Es gibt dieses wunderbare alte Foto, auf dem er mit seinen Kumpeln mit dem Rücken zur Kamera auf der Straße steht und pinkelt. Das hat schon etwas Katerhaftes. Sie markieren Lappland. So haben sie sich gesehen. Neben ihm pinkelt Tom, der dort eine Schwedin kennenlernt und gleich heiraten will, später aber zumindest seine Tochter nach ihr benennt. Mein Vater sieht damals ein bisschen so aus wie Manne Krug in "Spur der Steine": Ein Lebemann, verwegen und äußerst charmant, wenn es die Situation erforderte, aber gleichzeitig mit der Überheblichkeit jener frühen Selfmade-Fotografen-Generation, die ihn manchmal unerträglich machte. Gern sagte er zum Beispiel über sich, er sei gut aussehend. Ein bisschen spielte die Eitelkeit auch bei seinen Lappland-Reisen mit. Er mochte die Vorstellung, später darüber erzählen zu können. Wenn sie mit großer Geste wieder in Detmold einfuhren, die Ellenbogen aus dem Fenster, mit dem überlegenen Lächeln derer, die mehr von der Welt wussten als andere. Die Sache mit der Hütte hat er damals auch sofort der Lokalzeitung verklickert.

In den 1960ern dokumentierte Fritz Dressler immer wieder die Urlaube in ihrer Hütte. Auch auf der Reise mit seinem Sohn greift er noch oft reflexhaft zur Kamera.
In den 1960ern dokumentierte Fritz Dressler immer wieder die Urlaube in ihrer Hütte. Auch auf der Reise mit seinem Sohn greift er noch oft reflexhaft zur Kamera.
© Hauke Dressler

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob ich in unserer Hütte gezeugt worden bin, aber möglich wäre es schon. Jeden Sommer meiner Jugend sind wir hierher gefahren. Mit maximal 80 Stundenkilometern im VW-Bus, in dem wir meist auch geschlafen haben. Meine früheste Erinnerung: Im Alter von fünf Jahren streiche ich das neue Saunahäuschen. Damals habe ich zu meinem Vater aufgeblickt, er war groß und wissend, ein Held. Und ich an seiner Seite zumindest ein kleiner. Wie oft habe ich mir anhören müssen, wie er, der fast alles von Karl May und Jack London gelesen hatte, das unwirtliche Land in heroischer Manier unterworfen hatte. Wie er als idealistischer Architekturstudent mit Äxten und Baumsägen losgefahren war, um auf dem verfilzten Bodenbelag aus Heidekraut, Rentiermoos und Blaubeerbüschen das Fundament aus zwölf Findlingen und darüber einen Balkenkranz zu errichten. Auf dem im sanften Schein der Polarnacht bei vielen Gläsern Schnaps bald ein Holzhaus entstand – ohne einen einzigen Nagel. Aber eben auch ohne Heizung und ohne fließendes Wasser. Ich habe meinen Vater im Verdacht, dass er überwiegend seine Kumpel arbeiten ließ, weil er es auch später immer so getan hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich freue mich auf unsere Reise. Weil sie mir meinen Vater, aber natürlich auch Einiges über mich selbst erklärt. Im Grunde fühle ich mich jetzt zweimal: Einerseits bin ich noch einmal der kleine Junge, der an der starken Hand des Vaters die Welt entdeckt. Aber auch derjenige, der nun die Verantwortung für ihn übernehmen muss. Ein Kreis, der sich schließt.

"Das ist doch 'ne tolle Farbe, die heißt doch ... ja, das ist Rot."

Von Bremen geht es nach Kiel auf die Fähre – Bockwurst und Bier, dann schlafen. Wir sind guter Dinge. Morgens kommen wir in Göteborg an und fahren nach Norden Richtung Oslo. Dort besuchen wir zwei alte Freunde meines Vaters, Keramiker aus Bornholm, die sich sehr freuen, ihn zu sehen. Seine Freude hält sich in Grenzen, denn er erkennt die beiden nicht. Außerdem wissen sie wenig von den Bedürfnissen eines Demenzkranken und reden ihm deutlich zu viel.

Orientierungsversuche meines Vaters am nächsten Tag. Wiedererkennen über grafische Elemente. Als wir Oslo in Richtung Osten verlassen und die ersten rot gestrichenen Holzhäuser erblicken, sagt er: "Das ist doch 'ne tolle Farbe, die heißt doch ... ja, das ist Rot." Mein Vater scheint auf unbestimmte Weise immer noch zu wissen, dass dieses Rot einen besonderen Namen hat, nur will er ihm nicht mehr einfallen. "Falunrot", helfe ich, denn ich weiß, dass er die Kupferfarbe meint, die einzig an diesem Ort hergestellt wird. Oft führe ich die Sätze meines Vaters zu Ende, manchmal beginne ich sie auch – in der vagen Hoffnung, ihm damit Türen zu seiner Erinnerung zu öffnen. Weiß er, wohin wir fahren? "Ja, nach Nordnorden!"

Draußen Tauwetter, viel zu warm für einen skandinavischen Winter, es fehlt der Schnee. Und auch in die neuen Rollen müssen wir noch finden. Wir haben die Plätze gewechselt. Ich nun nicht mehr auf der Beifahrerseite, sondern am Steuer. Früher musste ich die Karten lesen, jetzt weist der Vater auf die Ortsschilder hin: T-ö-c-k-s-f-o-r-s. Er tut so, als ob ihn der Name an etwas erinnert. Aber vielleicht lächelt er auch nur, weil es so lustig klingt.

Sehr lange habe ich nicht erkannt, dass Diebesbanden im Kopf meines Vaters wüteten. Natürlich hatte es Hinweise auf seine Demenz gegeben, aber ich hatte sie nicht gesehen. Wunderte mich nur, als mein Vater vor rund zehn Jahren seltsame Sammelvorlieben zu entwickeln begann: Bilderrahmen kaufen bei Ikea zum Beispiel. Fast 200 Stück fanden wir in seinem Lager. Dutzende von Thermoskannen. Auch besorgte er sich für die Kamera unentwegt neue Speicherkarten – ohne die Bilder in den Computer einzuspielen und zu entwickeln. Auf einmal lagen 100 Speicherkarten auf seinem Schreibtisch, die er anfänglich noch notdürftig mit Zetteln versah. Irgendwann war ein Windstoß durchs Zimmer gefahren und alle Ordnung dahin.

Auf unserer 2500 Kilometer langen Fahrt besteht die unmittelbare Herausforderung für mich darin, meinen Vater motiviert zu halten. Er lebt ausschließlich in der Gegenwart. Seine Vorstellungswelt lässt es nicht zu, sich auf etwas in der Zukunft zu freuen. Und auch nicht über Dinge der Vergangenheit, die ihm weitgehend weggebrochen sind. Warum soll man etwas auf sich nehmen, wenn das Ziel so unvorstellbar weit weg liegt? Wie vermittelt sich der Reiz des Reisens, wenn man nicht mehr weiß, was Reisen ist?

Die Reise, die gerade erst begonnen hat, steht auf der Kippe

Ich versuche es über das Fotografieren, das uns mehr verbindet als alles andere. An Tag drei beobachten wir Menschen mit Hunden, die alle ähnlich aussehen. Mein Vater hat den Fotoapparat um den Hals und sucht den Kontakt zu den Fremden. "Sag ihnen auf Deutsch, dass du ein Foto machen willst, ich übersetze es dir", biete ich ihm an. Und bin überrascht, als er selbst anfängt, auf Englisch zu reden. Einfach, aber verständlich und deutlich besser, als ich es ihm zugetraut hätte.

Vater und Sohn in Finnland: Die Fahrt ihres Lebens
"Wie vermittelt sich der Reiz des Reisens, wenn man nicht mehr weiß, was Reisen ist?
© Hauke Dressler

"Das is ja 'n gutes Ding", sagt mein Vater und meint seine Kamera. Stelle ich sie ihm vor die Nase, greift er sofort zu. Ein Reflex wie beim Essen. Es sind vor allem starke Kontraste und Strukturen, die ihn begeistern. Wolken und Birken. Immer wenn wir halten, fotografieren wir gemeinsam. Mein Vater meist aus der gleichen Perspektive, er geht nicht mehr in die Hocke. Früher hat er eine Linie gesucht, heute gibt es nur noch das einzelne Bild. Und oft vergisst er, dass er es eine Minute vorher bereits gemacht hat.

Er merkt nicht, dass er schlechter fotografiert, aber es ärgert ihn, wenn die Automatik, die er jetzt zwingend braucht, nicht richtig eingestellt ist.

In Umeå kommen wir relativ früh im Hotel an. "Ich geh mal rein und frag, ob was frei ist", sage ich. Ob er lieber im Auto bleiben oder mitkommen möchte? Ich lasse mir den Zimmerschlüssel geben und checke ein. Als ich zurückkomme, ist mein Vater wutentbrannt. Er hat versehentlich mit dem Arm die Tür verriegelt und ist nicht rausgekommen, obwohl er auf die Toilette musste. Jetzt hat er die halbe Innenverkleidung rausgerissen. Für den Rest der Reise muss ich ihm die Tür von außen öffnen.

Am selben Tag beschwert er sich über seine schmerzenden Knie und die ihm zu schwer erscheinenden Winterstiefel. Die Reise, die gerade erst begonnen hat, steht auf der Kippe. Auch weil mein Vater bald die Frage stellt, von der ich gehofft hatte, sie würde gar nicht oder zumindest erst sehr spät kommen: "Wann sind wir wieder zu Hause?" Unterwegs sein ist für ihn kein Wert mehr, das Ziel, weil Tage entfernt, für ihn nicht greifbar.

"Alone Together"

Auch die Freiheit des Reisens kann er nicht empfinden, weil er sich in den Zeiten verläuft und es keine Erinnerung mehr gibt, an die er anknüpfen kann. "Wo sind wir?", fragt er. "Wofür tun wir das?"

Ich brauche eine Weile, um einzuschätzen, welche Strecken ich ihm zumuten kann. Und merke rasch, dass wir unser Tempo deutlich reduzieren müssen, um mehr Entspannung und Gegenwart zu erzeugen: Also länger im Café sitzen, mehr Kuchen essen, eigentlich all das, wonach mir am wenigsten ist. Ich nutze die Erfahrung, die ich selbst als Vater mit meinen Kindern gemacht habe, die ja auch nur im Jetzt sind und niemals auf etwas warten wollen. Und kann trotzdem nicht verhindern, dass er mit Verdauungsbeschwerden auf die Überforderung reagiert. Als sich sein Bauch bedrohlich wölbt, rufe ich den Hausarzt an, der von "temporärem Stress" spricht: "Fahrt erst mal weiter!"

"Alone Together" heißt ein Song von Chet Baker, den mein Vater sehr verehrte. In gewisser Weise bin ich jetzt auch mit meinem Vater völlig allein. Es fehlt mir schmerzlich die Reflektion über das, was wir erleben. Deshalb bin ich froh, dass ich zwischendurch meine Schwester und meine Freundin anrufen kann. Alles hängt an mir, und jede Nacht ist es dasselbe: Mein Vater wacht auf, in der Regel fünfmal, weiß nicht, wo er ist, macht das Licht an und sucht das Klo. Ich schlafe mit ihm im selben Zimmer, weil ich denke, dass ich ihn nicht alleinlassen darf. Jeden Tag spüre ich den Schlafmangel stärker. Und auch das Fahren wird schwieriger: Plötzlich ist es kälter geworden, die Straßen sind vereist.

Mein Vater, der nie irgendetwas oder irgendjemanden fürchtete, hat nun Angst vor Dunkelheit, Straßenglätte und Autos, die uns entgegenkommen. Immer, wenn ein großer Holzlaster auf der Gegenfahrbahn ist, wird unser Wagen für einen Moment von einer dichten Schneewolke geschluckt. Wir fahren dann buchstäblich ins Nichts. Ich weiß, dass der Schnee uns Sekunden später wieder freigeben wird, meinem Vater aber fehlt dieses Wissen. Weil die Erfahrungen, auf die er es gründen könnte, im Bermuda-Dreieck seiner Erinnerungen versunken sind.

Am siebten Tag fahren wir über die E4 zur ersten Touristenattraktion, die ich im Reiseplan vermerkt habe: dem Tree-Hotel. Acht futuristische Baumhäuser, von den besten Architekten Skandinaviens direkt in den Wald gebaut. Um dorthin zu gelangen, muss man einen Kilometer durch den Schnee laufen. Mein Vater sagt: "Ich will da nicht hin." Wir gehen trotzdem. Früher wäre er von den Bauten überwältigt gewesen. Jetzt reicht es gerade noch für ein "Ist aber auch nichts Besonderes, oder?"

Über Nacht ist das Thermometer auf minus 28 Grad gefallen

Wir wohnen in der nahe gelegenen Vintage-Pension, an deren Wand ein Plakat mit dem Lieblingsfilm meines Vaters hängt: "Vom Winde verweht". Außerdem steht auf dem Fenstersims ein Foto von einem Lappen in seiner Tracht. "Den kenn ich", sagt mein Vater in vager Erinnerung. "Du legst dich jetzt hin und ruhst dich aus", ordne ich an, weil ich draußen noch ein bisschen fotografieren will, und verspreche, in einer Stunde wieder da zu sein.

Als ich zurückkehre, merke ich, dass es ein Fehler war, meinen Vater allein zu lassen. Im Flur eine Menschenmenge. Ob der alte Mann zu mir gehöre? Mein Vater war der Reihe nach durch die skandinavientypisch unverschlossenen Hotelzimmer gezogen, hatte überall seine Sachen verstreut und in verschiedenen Betten geschlafen. Nur nicht in dem, das ich gebucht hatte. Ich bin beschämt, die Hotelangestellten sind verärgert.

Wenig Schlaf in der Nacht, die ich mit meinem Vater im Doppelbett verbringe, weil es das einzige Zimmer mit einer Innentoilette ist. Am Morgen gleich der nächste Schreck: Durch die Fensterscheibe des Hotels sehe ich, wie mein Vater zwei Rollkoffer in ein Taxi bringt. Ich renne hinaus zum Taxifahrer und will die Situation aufklären, als ich merke: Mein Vater hat nur zwei jungen, attraktiven Frauen helfen wollen. Nichts ist daran auszusetzen. In einer Vitrine entdeckt er einen kleinen Stoff-Husky und bleibt lange vor ihm stehen. "Willst du ihn haben?", frage ich ihn. "Ja, kann ich?" Ab jetzt wird der kleine Hund im Auto zwischen uns auf der Ablage stehen. Wann immer ich wissen will, wie es um meinen Vater steht, erkundige ich mich einfach nach seinem Hund.

Unterwegs Stopps in Tankstellenrestaurants: Wie vermittelt sich der Reiz des Reisens, wenn man nicht mehr weiß, was Reisen ist? 
Unterwegs Stopps in Tankstellenrestaurants: Wie vermittelt sich der Reiz des Reisens, wenn man nicht mehr weiß, was Reisen ist? 
© Hauke Dressler

Über Nacht ist das Thermometer auf minus 28 Grad gefallen, das Motoröl festgefroren, und der Wagen springt nicht mehr an. Zum Glück gibt es einen kasachischen Mechaniker, der im Hotel als Hausmeister arbeitet und sich bestens mit liegen gebliebenen Autos auskennt. Er spritzt Aerosol in den Turbolader – eine Methode, die man nicht zu oft anwenden sollte. Sofort springt der Motor wieder an. Außerdem rät er uns, in der nahe gelegenen Schlachterei Rentierfelle zu kaufen, als Souvenir und Kälteschutz, denn inzwischen ist auch der Thermostat unserer Heizung ausgefallen. Mein Vater aber wird sich nie beschweren: Er weiß ja nicht, dass er schon länger friert.

Wir sind jetzt kurz unterhalb des Polarkreises an der finnischen Grenze. Nach meinen Berechnungen könnten wir morgen an der Hütte sein, wenn wir jetzt noch ein bisschen Strecke machen. Von Jokkmokk nach Överkalix fahren wir zwei Stunden durch einen tief verschneiten Wald in völlige Dunkelheit. Ich finde es großartig, wie in der Sandkiste zu spielen, mein Vater aber fragt: "Was soll das? Hier ist doch kein Mensch." Und klingt so, als würde ich ihn geradewegs zur Richtbank führen. Erst da habe ich ihn in seiner Einsamkeit wirklich begriffen.

Ich werde nicht, wie geplant, mit ihm die ganze Tour wieder zurückfahren

Am zehnten Tag geraten wir aneinander. Vielleicht wirkt der Vorabend noch nach. Bisher war mein Vater nie inkontinent, aber jetzt ist etwas schief gegangen. Ich sage ihm, dass er sich nochmal waschen muss. "Nee", antwortet er, "mach ich nicht." Und dann mehrmals: "Du bist 'n Arschloch!" Mein Vater ist mir zwar körperlich klar unterlegen, aber das hat er vergessen, als er den Arm gegen mich erhebt. Ich trete einen Schritt zurück. Natürlich, ich bin es, der ihn in diese Situation gebracht hat. Er fühlt sich überfordert und gibt mir dafür die Quittung. Kurz nach dem Streit schläft er eine Stunde, danach ist seine aggressive Stimmung wie weggeblasen. Allerdings habe ich jetzt eine Entscheidung gefällt: Ich werde nicht, wie geplant, mit ihm die ganze Tour wieder zurückfahren. Nur noch zur Hütte und dann werde ich ihn schnellstmöglich ins Flugzeug setzen. Es gibt einen Direktflug nach Hannover.

Und dann endlich sind wir da. Jedenfalls fast, denn zunächst müssen wir noch über den zugefrorenen Palolompolo-See, an dessen gegenüberliegendem Ufer die Hütte liegt. Die Gegend hat ein bisschen ihren Charme verloren: Der See ist inzwischen fast leergefischt, und dank EU-Fördergeldern gibt es jetzt viele Hütten, die aber leer stehen. Wir müssen den Wagen relativ weit entfernt parken und laufen vorsichtig entlang der Scooter-Spuren, die wir entdecken. Als sie urplötzlich enden, versinken wir tief im Schnee. Mein Vater flucht, weil ihm die Kamera entglitten ist. Mit den eingepackten Langlauf-Skistöcken laufen wir weiter. Wird mein Vater das Haus, das ihm ein halbes Jahrhundert wichtiger war als jeder andere Ort der Welt, noch erkennen?

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Schneeblumen am großen Doppelfenster, wir stapfen über die Veranda, ich schließe die Tür auf: Mindestens drei Jahre ist hier niemand gewesen. Fährt ja keiner mehr hin. Von der ursprünglichen Vierergruppe sind zwei ausgestiegen, als sie 50 waren, weil ihnen die Reise zu weit geworden war. Natürlich gab es auch noch andere Gründe: Sie haben die Hütte zusammen gekauft, also wurde alles geteilt, und genau das führte später auch – wie in fast jeder WG – zu Streit. Heute besitzt die Hütte nur noch einer der ursprünglichen Gruppe, wahrscheinlich aus sentimentalen Gründen.

Ich atme den vertrauten holzigen Geruch meiner Kindheit. An der Stelle der früheren Esse steht jetzt ein Ofen, der Rußgeruch hat sich unausrottbar ins Kiefernholz gefressen. Irgendwann sagt mein Vater: "Hier war ich schon mal." Ich hatte gehofft, in ihm Erinnerungen zu wecken, Emotionen, aber es bleibt bei diesem einen Satz. Das Haus findet er nur mäßig interessant. Anderthalb Stunden später stapfen wir zurück zum Auto.

Ich weiß, dass die Anspannung bald von mir weichen wird

Am Flughafen von Kittilä sind wir beide gelöster Stimmung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich weiß, dass die übergroße Anspannung bald von mir weichen wird. Weshalb er sich freut, ist weniger klar. Vielleicht weil er hier ungeniert Faxen machen kann. Er nimmt meine Fellmütze und setzt sie sich schief auf den Kopf. Ruft "tätää", bläst die Backen auf und imitiert die Bonanza-Melodie. Früher hat er dazu immer noch mit den Händen getrommelt, aber der Rhythmus hat sich von ihm verabschiedet. Und weil er das weiß (oder spürt) scheitern auch alle meine Versuche, ihn zu einem kleinen Schlagzeugsolo auf dem Restauranttisch zu animieren. Ich frage: "Sollen wir den Kaffee linksrum rühren oder rechtsrum, was meinste, wie schmeckt der besser?" Und dann lachen wir zusammen.

Beim Check-In erkundige ich mich, ob es jemanden gibt, der meinen Vater in Hannover zum Gepäckband bringen könnte. Das könne sie mir nicht versprechen, sagt die Dame an der Abfertigung. Am Ende bitte ich ein deutsches Touristenpaar, meinen Vater an seinen Platz zu bringen. Als die Maschine abhebt, bin ich immer noch unsicher, ob er wirklich darin sitzt. Zwei Stunden später der erlösende Anruf aus Hannover: Mein Vater ist angekommen. Ohne Gepäck zwar, aber das findet sich später.

Ich fahre dann allein zurück nach Deutschland. Auf den Lofoten sehe ich das Nordlicht, das ich eigentlich ihm versprochen hatte.

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