Eine Auszeit nehmen, den Alltag hinter sich lassen: Das ist die große Sehnsucht unserer Zeit. Weil viele Menschen aber mehr suchen als ein paar Tage Entspannung oder Ablenkung, entdecken sie eine uralte Tradition jetzt auch für sich: das Pilgern.
Pilgerschaft ist Suche. Sie wird häufig an einem Krisen- oder Wendepunkt des Lebens begonnen. Man ist unterwegs. Zu Gott. Zu sich. Man erlebt eine innere Befreiung - man ist vorübergehend alle Alltagslasten los, muss sich um nichts kümmern, keine Vorsorge treffen. Pilgern ist Loslassen. Man lernt, wie unwichtig vieles ist, wie viel überflüssige Sorgen und Ängste man mit sich herumschleppt. Man gewinnt innere Freiheit. Pilgern ist Ankommen. Am Ziel. Am heiligen Ort. Pilgern ist auch ein Prozess der Selbstheilung. Man hat seine Fähigkeiten und Grenzen kennengelernt. Man ist gewachsen. Man hat Kraft gewonnen. Innere wie äußere. Das scheinbar Unentbehrliche hat sich als verzichtbar erwiesen. Das Verlorengegangene hat man wiedergefunden: das Vertrauen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen - vielleicht auch zu Gott. Viele sind als Wanderer losgegangen und als Pilger angekommen.
Der TV-Komiker Hape Kerkeling verkaufte von seinem Buch "Ich bin dann mal weg" in nur neun Monaten mehr als 1,5 Millionen Exemplare. Er beschreibt seine Wanderung auf der letzten Etappe des mittelalterlichen Jakobsweges, eines alten Pilgerpfads, der sich durch ganz Europa zieht. Viele stern-Reporter waren in den vergangenen Wochen auch mal weg und besuchten Europas Wallfahrtsorte. Henning Lohse war in Lourdes, Claus Lutterbeck und Luisa Brandl schauten sich in Rom um, Rainer Nübel im schweizerischen Einsiedeln und Philipp Maußhardt in Santiago de Compostela.
Sie trafen Pilger und Ordensleute, besuchten Gottesdienste und Herbergen. Ihr Ehrgeiz war aber auch, alte Wege neu zu entdecken. Davon gibt es immer mehr, vor allem in Deutschland. Holger Witzel war völlig verblüfft, als er erfuhr, dass ein Pilgerpfad durch seinen Heimatort Leipzig führt. Er packte seinen Schlafsack und ging ein Stück des 450 Kilometer langen Ökumenischen Pilgerwegs von Görlitz von Vacha. Am Ende schrieb stern-Reporter Uli Hauser aus den Eindrücken der Kollegen und eigenen Erfahrungen unsere Titelgeschichte. Er kennt Wallfahrten seit Kindesbeinen. Als Junge pilgerte er mit seinen Eltern oft nach Kevelaer, dem größten Wallfahrtsort Nordeuropas. Dass es beim Beten und Besinnen nicht immer ernst zugehen muss, lernte er von seinem Vater. Der brachte ihm ein sehr kurzes Gebet bei: "Lieber Gott. Hab ich unrecht Dir getan, schreib mal an, schreib mal an."
Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn