Editorial Ende des rot-grünen Lebenszyklus?

Liebe stern-Leser!

Schröders Machtarchitektur ruhte bis vor kurzem auf einigermaßen verlässlichen Pfeilern. Erstens: ein populärer Außenminister, dessen Strahlkraft die gesamte Regierung wärmte (Fischer). Zweitens: ein Wirtschaftsminister, der sich mit Leidenschaft gegen die Arbeitslosigkeit stemmen sollte (Clement). Drittens: ein Kanzleramtschef, der als lebender Seismograf jeden politischen Wellenschlag kommen sah und seinen Chef in Sicherheit brachte (Steinmeier). Viertens: ein kluger Landesvater als Bollwerk in der SPD-Herzkammer Nordrhein-Westfalen (Steinbrück). Fünftens: eine domestizierte Partei, die ein paar Jahre brauchte, um zu erkennen, was sie an Schröder hat. Und sechstens: des Kanzlers eigene schlafwandlerische Sicherheit, in politischen Krisen die richtigen Knöpfe zu drücken.

Nun ist das Konstrukt bedrohlich ins Wanken geraten. Die Visa-Affäre schleift nicht nur das Ansehen Fischers, sondern bringt auch den Kanzler-Vertrauten Steinmeier in die Schusslinie. Er kannte zwar den Beginn des Ringkampfes zwischen Außen- und Innenministerium um die Visa-Politik (Seite 56), sah aber der Drama-Dämmerung fast tatenlos zu. Clement hat sein Schicksal an Hartz IV gekoppelt, was angesichts von demnächst 5,4 Millionen Arbeitslosen politischem Harakiri gleichkommt. Die SPD schlingert hilflos durch die Krisen und fragt sich, ob der so genannte Job-Gipfel nicht eher ein Flop-Gipfel war. Zwar haben sich beide Seiten auf das Absenken von Unternehmenssteuern und andere halbgare Mittelchen "geeinigt". Aber nun müssen sich erst einmal Unterhändler auf die Suche nach sieben Milliarden Euro machen, um das Päckchen zu bezahlen. Und erst dann wird sich zeigen, ob es tatsächlich eine Einigung gibt. Danach sieht es vorerst nicht aus. Rot-Grün will die Steuerschlupflöcher für Unternehmen schließen, was die Union als Steuererhöhung geißelt. Konsens? Nicht wirklich!

Dann Steinbrück, der Aufrechte aus Düsseldorf, ohnehin in der Defensive. Nach der politischen Selbstverstümmelung von Heide Simonis kann er die Landtagswahl am 22. Mai wohl abschreiben. Selten durfte das Wahlvolk einer derartigen Vorstellung von triebhaftem Machterhalt beiwohnen. Man kann wohl davon ausgehen, dass Simonis beim vierten Mal in Absprache mit Schröder und Müntefering in den Ring gestiegen ist. Was für ein Akt der Verzweiflung! Natürlich ahnten die SPD-Häuptlinge, dass in Kiel auch die Zukunft der Regierung auf dem Spiel steht. Nach der öffentlichen Demütigung trägt Simonis den Spottnamen "Pattex-Heide" davon und der Kanzler schwerste Blessuren an seiner fast schon mythischen Instinktsicherheit. stern-Autor Andreas Hoidn-Borchers und seine Kollegen im stern-Hauptstadtbüro beschreiben ab Seite 42 das Erdbeben im Berliner Machtzentrum, bei dem leider auch verschüttet wird, was diese Regierung in Deutschland immerhin bewegt hat. Vieles deutet darauf hin, dass sich der Lebenszyklus des rot-grünen Projekts dem Ende neigt. Falls Schröder nicht doch noch einen Knopf findet.

Gut zwei Jahre

sind vergangen, seitdem US-Truppen in der Nacht vom 19. zum 20. März 2003 in den Irak einmarschierten. Damals begleiteten stern-Reporter Uli Rauss und Fotograf Perry Kretz eine Einheit der US-Marines in den Krieg. Junge Amerikaner, die vor Selbstbewusstsein strotzten, elitär dachten, Sprüche klopften über den schnellen Erfolg der "Operation Irakische Freiheit". Nichts war davon zu spüren, als Rauss und Kretz nun dieselbe Einheit der Marine-Infanterie im Irak erneut begleiteten. Das stern-Team erlebte eine desillusionierte, ernüchterte, verrohte Truppe junger Männer, die mit Antidepressiva kampffähig gehalten werden und nichts so sehr herbeisehnen wie ihre Heimreise.

Herzlichst Ihr


Andreas Petzold

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