Editorial Man kann dem Leben nicht mehr Zeit geben, aber der Zeit mehr Leben

Liebe stern-Leser!

Wie lebt man mit der Diagnose, unheilbar krank zu sein? Wartet man auf den Tod? Sehnt man ihn herbei? Hat man Angst vor jenem Tag? Lauter Fragen, die sich wohl jeder von uns einmal stellt. stern-Redakteurin Andrea Schaper fand Antworten bei einer krebskranken Frau aus Hamburg. Ein Arzt hatte ihr im April 2001 als verbleibende Lebenszeit "vielleicht noch drei Jahre" in Aussicht gestellt. Die 41-jährige Clara hat gehofft, gekämpft - und nach fünf Jahren doch gegen die Krankheit verloren. Andrea Schaper und Fotografin Nele Martensen haben Clara immer wieder besucht. Sind mit ihr noch einmal zu ihren Lieblingsplätzen gegangen - in die Lieblingskneipe, an den Hamburger Hafen, in die alte Wohnung. Als Clara nicht mehr gehen konnte, saßen sie oft draußen unter einer großen Erle, und Clara erzählte aus ihrem Leben, das sie nicht mehr festhalten konnte. Und immer wieder erklärte sie, dass sie sich vor dem Tod nicht fürchtet. Wohl aber vor einem qualvollen Sterben. Ein knappes halbes Jahr vor ihrem Tod ging sie deshalb in das Hamburger Hospiz "Leuchtfeuer", um in den Wochen mit immer stärkeren Schmerzen und wachsender Hoffnungslosigkeit gepflegt, umsorgt und getragen zu sein. Am Ende starb Clara so, wie sie es sich erhofft hatte. Sie ist friedlich eingeschlafen, die beste Freundin an ihrer Seite.

In Würde sterben, möglichst ohne Schmerzen - dieses Thema beschäftigt den stern schon länger. Im November hatten wir in einer Titelgeschichte zwölf schwer kranke Menschen vorgestellt, die sich gezwungen sahen, in die Schweiz zu fahren, wo ihnen der Verein "Dignitas" beim Freitod helfend zur Seite steht. Der Bericht löste unter den Lesern ungewöhnliche viele und ungewöhnlich intensive Reaktionen aus. Die Mehrheit war der Meinung, Sterbehilfe sollte in Deutschland liberalisiert werden. Andere waren und sind vehement dagegen.

Die Deutsche Hospiz Stiftung lehnt den in der Schweiz praktizierten assistierten Suizid strikt ab - und erst recht aktive Sterbehilfe. Sie fordert jedoch einen Rechtsanspruch auf professionelle Sterbebegleitung durch Palliativ- Mediziner und Pfleger. Wie das in der Praxis aussieht, zeigt die Reportage über "Claras letzten Weg". Hinter der beeindruckenden Arbeit, die bei "Leuchtfeuer" und vielen anderen Hospizen in Deutschland geleistet wird, steht ein ebenso beeindruckender Gedanke: Man kann dem Leben nicht mehr Zeit geben, aber der (verbleibenden) Zeit mehr Leben.

Falls Sie in den nächsten Wochen einmal in Hamburg sind (was sich immer lohnt, weil es eine der schönsten Städte der Welt ist), dann lade ich Sie herzlich ein in unser G+J-Pressehaus am Baumwall. Dort zeigen wir derzeit die besten Bilder des "World Press Photo Award", des größten und renommiertesten Wettbewerbs für Pressefotografie. Einige der ausgezeichneten Fotos sind bereits im stern erschienen. Insgesamt sind 178 Bilder aus den Bereichen Porträts, Aktuelles und Natur zu sehen. Die Ausstellung läuft noch bis zum 27. Mai (Eintritt frei), ab 1. Juni wird sie dann im Willy-Brandt- Haus in Berlin gezeigt.

Herzlichst Ihr

Thomas Osterkorn

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