Die Deutschen machen sich Gedanken, sie sind offenbar auf Sinnsuche. Richard David Prechts philosophischer Grundkurs "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" war neben Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" in diesem Jahr der große Überraschungserfolg des Buchmarktes. Schon seit 40 Wochen steht der Titel in den Top Ten der Bestsellerlisten. Bislang wurden 600.000 Exemplare verkauft. Die Deutschen lassen sich offenbar nicht nur durch provokante Unterleibsprosa begeistern, sondern auch durch Denker und Dichter. Die Zeit dafür scheint reif. Zuletzt sorgten die Verwirbelungen des Weltfinanzchaos für tiefe Verunsicherungen - nicht nur über die wirtschaftliche Zukunft, sondern über unsere Lebensweise insgesamt. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf Fragen jenseits des eigenen Bankkontos. "Philosophie blüht in der Krise", schreibt Richard David Precht. In unserer Titelgeschichte analysiert der 1964 geborene Autor und Philosoph ebendiese Krise, in der er die Deutschen wähnt. "Die Freiheit der Wahl", schreibt Precht ab Seite 60, "hat uns träge gemacht, banal und blind. Wir wählen nicht mehr zwischen Ideologien, sondern zwischen Betriebssystemen. Was ist nur aus uns geworden? Wir wollen nicht zurück in die Zeit unserer Großeltern und nicht voran in die düstere Zukunft. Wir haben geträumt von einer endlosen Gegenwart. Doch nun müssen wir etwas lernen. Wir lernen, dass wir unser Leben nicht auf eine Bank bringen können, die immer höhere Zinsen zahlt." stern-Redakteur Stephan Maus unterzieht zudem zehn der wichtigsten Denker einem Praxistest: Wer waren sie, was sagen uns ihre Gedanken heute noch? Philosophie, also das geistige Innehalten und Nachdenken über - salopp gesagt - Gott und die Welt, kann helfen, in diesen unsicheren Zeiten wieder Antworten, einen Sinn zu finden.
Schon vor einem Jahr hatte stern-Reporter Marc Goergen über die endlose Gewalt im Osten der Demokratischen Republik Kongo geschrieben. Im Mittelpunkt der Reportage stand das Panzi-Krankenhaus in der Stadt Bukavu, in dem von Milizen und der Armee vergewaltigte Frauen physisch und psychisch betreut werden. Ein Thema, das die Leser des stern bewegte. Sie spendeten über die Stiftung stern mehr als 120.000 Euro für das Krankenhaus. Als sich Marc Goergen nun in Bukavu befand, um die durch Spendengelder finanzierten Projekte zu dokumentieren, brach nur 100 Kilometer weiter nördlich eine neue Krise aus: Der abtrünnige General Laurent Nkunda überrannte mit seinen Rebellentruppen Dorf um Dorf und drohte sogar die Provinzhauptstadt Goma einzunehmen. Die UN-Truppen - eigentlich zum Schutz der Zivilbevölkerung in der Region stationiert - stehen hilflos am Rand und schießen höchstens mit ihren Kameras ein paar Erinnerungsfotos. Schon 1994 nach dem Völkermord in Ruanda drängten sich in der Gegend Hunderttausende in Lagern. Jetzt sind Goma und die Dörfer hinter der Frontlinie wieder Mittelpunkt einer Flüchtlingskrise. Goergen fuhr mit dem Boot über den Kivusee nach Goma. Dort sprach er mit Flüchtlingen, Rebellen- Soldaten, recherchierte nahe der Front. "Es ist ein Kreislauf der Gewalt", sagt Goergen, "die Gegend ist so reich an Bodenschätzen, das sich jeder einen möglichst großen Teil daran sichern will. Und am Ende sind es immer wieder die Menschen in den Dörfern, die vertrieben, vergewaltigt oder getötet werden." Auch das Panzi-Krankenhaus in Bukavu bereitet sich schon auf eine neue Welle vergewaltigter Frauen vor: Vorsorglich wurden zwei neue Ärzte eingestellt (ab Seite 30).
Herzlichst Ihr
Andreas Petzold