Editorial Überwachungsmethoden, die an die Stasi erinnern

Liebe stern-Leser!

Seit die Gewerkschaft Verdi vor gut drei Jahren das "Schwarz-Buch Lidl" veröffentlichte, durfte man sich über den Lebensmittel-Discounter keine großen Illusionen mehr machen: Die Berichte aus den Filialen zeigten, wie Lidl die Gründung von Betriebsräten torpediert, Mitarbeiterinnen unbezahlte Überstunden leisten müssen und Angestellte aus dem Unternehmen gemobbt werden. Im Mai 2006 folgte das "Schwarz-Buch Lidl Europa". Darin wurde berichtet, wie in einem Einzelfall Beschäftigte in einer Filiale heimlich ausgespäht wurden. Lidl-Gründer und Multimilliardär Dieter Schwarz, 68, hätte nach diesen Vorfällen alle Zeit der Welt gehabt, solche Stasi-Methoden zu verbieten.

Doch das Ausmaß der Mitarbeiterüberwachung, das der stern in dieser Ausgabe ans Tageslicht bringt, übertrifft alles bisher Bekannte bei Weitem. Was Lidl bisher als "Einzelfälle" abtat, entpuppt sich als System. Ein Insider wandte sich zunächst an stern.de-Redakteur Malte Arnsperger und bot mehrere Hundert Seiten geheimer Überwachungsprotokolle aus Lidl-Filialen an. Gemeinsam mit stern-Reporter Markus Grill aus dem Politik- und Wirtschaftsressort begann die Recherche. Unter anderem sichteten die beiden Kollegen säuberlich aufgelistete Wochenprotokolle aus Lidl- Filialen, in denen mit Datum und Uhrzeit vermerkt wird, wer wie oft aufs Klo geht, wer mit wem möglicherweise ein Liebesverhältnis hat, wer nach Ansicht der Überwacher unfähig ist oder einfach nur "introvertiert und naiv wirkt". Die Protokolle stammen überwiegend aus dem Jahr 2007 und zeigen eine Mischung aus grenzenloser Neugier, Ausspähen der Privatsphäre und Notizen über alltägliche Banalitäten, die fatal an den Stasi-Spitzeldienst der untergegangenen DDR erinnern.

Vergangene Woche fuhren Arnsperger und Grill zu einzelnen Lidl-Filialen und zeigten den überwachten Mitarbeitern die sie betreffenden Protokolle. Zum ersten Mal lasen die Lidl-Beschäftigten Dinge über sich, die ein Detektiv notiert hatte. Sie waren ahnungslos, entsetzt. Und sie fragten die stern-Reporter: Darf ein Arbeitgeber überhaupt so neugierig sein? Ist das legal? Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, antwortet darauf mit "Nein". Allenfalls bei einem sehr konkreten Diebstahlsverdacht, der anders nicht aufzuklären sei, könne eine heimliche Videoüberwachung erlaubt sein. Doch in den Lidl-Protokollen werden wahllos Mitarbeiter observiert. "Ich geh davon aus", so Schaar zum stern, "dass die zuständige Datenschutzbehörde tätig wird und Ermittlungen einleitet."

Gegenüber dem stern behauptete das Unternehmen, es sei nur darum gegangen, Ladendiebe zu finden, diese Art der Protokolle seien gar nicht erwünscht gewesen. Doch das überzeugt nicht. Dazu waren die Überwachungen, die bis in die Intimsphäre gingen, viel zu detailliert und dauerten überdies viel zu lange an. Lesen Sie unsere Titelgeschichte über die Lidl-Stasi ab Seite 44. Im Internet auf stern.de können Sie neben weiteren Recherchen einen Blick in die Abgründe eines Schnüffelprotokolls werfen und ein Überwachungsvideo aus einer Lidl-Filiale sehen (www.stern.de/lidl).

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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