Ein Bild und seine Geschichte Lachen gegen die "Tsunamimüdigkeit"

Von Philipp Gülland
Kurz vor Einbruch des Winters stürzt ein schweres Erdbeben das bitterarme Kaschmir in die Katastrophe. Drei Millionen Existenzen stehen am Abgrund. Inmitten dieses unfassbaren Dramas lächelt Rahila, mit gebrochenen Beinen. Die Geschichte eines starken Mädchens.

Rahila lächelt, sie streckt die Arme über den Kopf, ihre großen Augen strahlen. Die Beine des Mädchens werden von Seilen zum Dach des Lazarettzeltes gezogen und stecken in dicken Verbänden. Sie sind mehrfach gebrochen.

Vor ein paar Tagen, Rahila war gerade in der Schule, da wackelten plötzlich die Wände, das Gebäude stürzte ein. Am Morgen des 8. Oktober 2005 fordert ein Erbeben in Kaschmir, der seit Jahrzehnten zwischen Indien und Pakistan umkämpften Bergregion, 75.000 Menschenleben. Mehr als drei Millionen macht die Katastrophe obdachlos, 20.000 Quadtratkilometer groß ist das verwüstete Gebiet. Eingestürzte Häuser, zerstörte Brücken und der hereinbrechende Winter spitzen die Situation in einer der ärmsten Gegenden der Welt weiter zu. Es fehlt an allem: Decken, winterfesten Zelten, Medikamenten und Lebensmitteln.

Drei Wochen nach dem Beben fliegt der dänische Fotograf Jan Grarup nach Pakistan, nach Muzaffarabad, die Provinzhauptstadt des pakistanischen Teils von Kaschmir. Die Stadt wurde von den Erdstößen der Stärke 7,6 fast vollständig zerstört. Mehr als 70.000 Menschen starben damals in dieser Kaschmirregion, darunter 18.000 Kinder.

Der zweite Blick

In einem provisorisch eingerichteten Krankenhaus entdeckt der Fotograf Rahila, eines der vielen schwer verletzten Mädchen und Jungen. Die Ärzte haben ihre mehrfach gebrochenen Beine mit einen Streckverband versorgt. Man hat sie mit dem Hubschrauber aus ihrem Heimatdorf geholt, um sie behandeln zu können. Eine halbe Flugstunde rettet Rahilas Leben. Trotz ihrer schweren Verletzungen lächelte das Mädchen ihn an: "Ihr Lächeln inmitten von Trauer und Verzweiflung hat mich tief beeindruckt", erklärt der Fotograf später, "Das kleine Mädchen zeigt, welche Kraft in Kindern steckt."

Grarup ist einer der wenigen Journalisten, die noch vor Ort sind. Die Massenmedien haben dem menschlichen Drama am Hindukusch längst wieder den Rücken gekehrt, das Wort "Tsunamimüdigkeit" macht die Runde. Es ist der zweite Blick, der dem Dänen am Herzen liegt: Weit jenseits des Plakativen sucht und findet der Fotoreporter Geschichten, die anrühren - Geschichten, wie die von Rahila.

Zeit nehmen und lassen

Der 1968 geborene Däne ist Fotojournalist bis ins Mark. Schon als Schüler fotografierte er für eine Lokalzeitung, studierte danach Fotojournalismus und arbeitete für die Tageszeitungen "Ekstrabladet" und "Politiken", erhielt für seine Reportagen immer wieder Preise und Auszeichnungen. Fragt man ihn nach dem Grund seines Tuns, antwortet der fotografierende Überzeugungstäter, was seine Bilder schon vermuten lassen - Empathie: "Am meisten interessiert mich, wie die Menschen leben - vor allem die Kinder. Ich mag es, mich persönlich einzumischen - als Fotografen können wir Dinge beeinflussen", sagt er dem Journalistenmagazin "Freelens" in einem Interview.

Seine Arbeit folgt einem ebenso simplen wie luxuriösen Rezept: Er nimmt sich Zeit, denn "nur mit viel Zeit kommt man Menschen nahe, und erst dann fangen sie an, von ihrem Leben zu erzählen und dich daran teilhaben zu lassen. Zeit zu investieren, ist die Grundlage meiner Arbeit." Grarup ist mit seinem Rezept erfolgreich: Sein Portrait von Rahila wird 2006 Unicef Foto des Jahres.