Aliona, herzlichen Glückwunsch! Dir wurde gerade der World Press Photo Award für das beste "Long Term Project" in Europa verliehen. Der Preis ist eine der angesehensten Auszeichnungen im Fotojournalismus weltweit. Wie fühlt sich das an?
Vielen Dank! Ich freue mich so sehr, vor allem über die Anerkennung. Und über die Sichtbarkeit, die ich und meine Geschichte aus Russland jetzt bekommen. Diesen Preis zu gewinnen, war schon ganz früh ein Traum für mich.
2022 bist du im Auftrag des stern nach Tomsk in Sibirien zu deiner Familie gereist – knapp ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Du hattest uns die Geschichte damals selbst angeboten. Was hat dich motiviert?
Der Krieg hat mich extrem beschäftigt, was er heute noch tut. Ich habe mir die ganze Zeit so viele Gedanken darüber gemacht, wie ich als Fotografin darauf antworten soll, wie ich dieses Thema aus meiner Sicht abbilden kann. Ich habe während meines stern-Stipendiums mit dem damaligen Redakteur Jonas Breng darüber gesprochen. Er hat mich ermutigt, das Projekt umzusetzen. Weihnachten 2022 war ein guter Anlass, endlich nach Russland in meine alte Heimat zu fahren, ich war ungefähr drei Wochen dort. Ich habe mich bis dahin einfach nicht getraut, nach Hause zu fahren. Weil es für mich so emotional war.
Wie schwer fiel dir die Reise?
Sehr schwer. Das Projekt hatte ein hohes Konfliktpotenzial. Ich wollte mit der Geschichte mir und meinen Eltern den Raum geben, ausführlich über den Krieg zu reden. Bevor ich nach Russland gefahren bin, hatten wir genau zweimal darüber geredet. Zunächst direkt nach dem Kriegsausbruch, dann im September 2022 nach der Mobilmachung in Russland.
Wie waren diese Gespräche?
Ich habe schnell gemerkt, dass wir sehr unterschiedlicher Meinung sind. Wir haben uns beide Male heftig gestritten. Aber jetzt bin ich froh, dass ich diesen Weg gegangen bin. Ich möchte den Prozess ein bisschen mit einer Therapie vergleichen. Das ist ein Weg, der dich am Ende irgendwo hinführt. Ich habe nun auch verstanden, was mir an meiner Familie lieb ist und was uns verbindet, trotz ihrer Ansichten, die ich verachte.

Zur Person
Aliona Kardash, geboren 1990, ist Dokumentarfotografin aus Tomsk in Sibirien. Dort hat sie Journalismus studiert und mit dem Bachelor abgeschlossen. An der Hochschule in Hannover studierte sie ein Semester Fotojournalismus. Aktuell arbeitet sie im Studiengang für Fotografie in Dortmund an ihrem Master. Sie lebt in Hamburg
Wie waren die Reaktionen auf die Veröffentlichung?
Ich bekomme viel Feedback und in Deutschland meistens positive Rückmeldungen. Meine Arbeit berührt die Leute. Viele Menschen können meinen Konflikt in der Familie auf ganz unterschiedlichen Ebenen nachempfinden. Er scheint etwas Universelles zu haben. In Deutschland ist der Konflikt vergleichbar mit den Streitigkeiten in der Corona-Zeit zwischen Impfgegnern und -Befürwortern. Oder den Konflikten in den Familien zwischen AFD-Wählern und Leuten, die den rechten Extremismus ablehnen. Wenn man sich inhaltlich und politisch so stark unterscheidet, weiß man irgendwann nicht mehr, wie man wieder zusammenkommen soll.
Und wie fallen die Reaktionen in Russland aus?
In Russland fällt es mir schwerer, die Geschichte zu zeigen. Es gibt innerhalb der russischen Community einen dauerhaften Konflikt zwischen den Ausgewanderten und den Dagebliebenen. Beide Seiten fühlen sich einfach nicht verstanden. Deswegen habe ich mir Sorgen gemacht, ob die Leute sich in meinen Bildern gerecht repräsentiert fühlen. Ich glaube aber, dass ich respektvoll mit den Menschen umgegangen bin. In dieser Geschichte steckt viel Schmerz, aber auch viel Liebe. Ich möchte mit meiner Arbeit niemanden gefährden, und ich möchte weiterhin in meine Heimat reisen können, ich möchte mir diesen Weg nicht verbauen.
Die Gewinner in der Kategorie Einzelbild – stimmen Sie über Ihren Favoriten ab!

Wie blickst du heute auf das stern-Stipendium?
Das war eine goldene Zeit für mich. Ich konnte an so vielen unterschiedlichen Geschichten mitarbeiten, ich habe so coole Erfahrungen gemacht. Vor meinem stern-Stipendium kannten mich nur wenige. Und nun haben ganz viele Leute meine Bilder gesehen und gemerkt, dass ich eine gute Arbeit mache. Es hat mir den Einstieg in meinen Beruf als Fotojournalistin geebnet. Ich bin dem stern dafür sehr dankbar, und das sage ich nicht nur, weil ich euch gerade ein Interview gebe.
Das stern-Stipendium
Die Redaktion des stern vergibt seit 2013 jedes Jahr ein Stipendium an eine herausragende Fotojournalistin oder einen herausragenden Fotojournalisten mit einem abgeschlossenen Studium im visuellen Bereich.
Das Stipendium beinhaltet einen Jahresvertrag beim stern, innerhalb dessen der Stipendiat oder die Stipendiatin als festes Redaktionsmitglied in der Hamburger Redaktion arbeitet. Das Nachwuchstalent erhält die Chance, seine Werke zu veröffentlichen und Arbeitserfahrungen zu sammeln. Gemeinsam mit den stern-Redakteuren setzt es sich journalistisch und fotografisch mit dem aktuellen Zeitgeschehen auseinander – im Inland ebenso wie im Ausland. Der Schwerpunkt liegt auf moderner Porträt- und Reportagenfotografie, für die der stern immer wieder ausgezeichnet wird.
Der Bewerbungszeitraum ist jedes Jahr im Februar – für 2025 ist der Bewerbungsprozess bereits abgeschlossen. Weitere Infos sind hier zu finden.
Woran arbeitest du gerade?
Ich arbeite an einer großen Geschichte, die ich schon vor langer Zeit begonnen habe und die ich noch finalisieren muss. Sie hat auch mit meiner Familie zu tun, aber der Blick auf sie ist hier ein ganz anderer. Ich muss das noch in eine Form bringen, und dann werde ich euch das Thema verraten.
Hinweis: Dieses Interview erschien erstmals im April 2025. Anlässlich der Preisverleihung bieten wir es nochmals zum Lesen an.